Dann fiel mir noch was anderes ein. Lilly wartete auf mich! Ich hab völlig vergessen, ihr Bescheid zu geben. Also verließ ich wieder diesen traurigen Raum und trat zurück in den kalten Flur, durch den schon so viele Menschen gelaufen sind. Glückliche. Traurige. Ärzte, für die das hier Alltag war. Für Lilly auch? War das hier auch für sie Alltag? Ich wählte ihre Nummer und betete, dass sie ranging. Es war schließlich mitten in der Nacht.
L: Hey Schatz. Wann kommst du nach Hause?
fragte sie müde. Anscheinend hatte ich sie geweckt.
I: Ich glaube ich... ich komme heute nicht mehr.
antwortete ich mit tränenerstickter Stimme.
L: Wieso? Ist was passiert?
I: K-kannst du... bitte herkommen?
L: Wohin?
I: Ins Krankenhaus. Ich send dir die Adresse. Bitte... beeil dich.
L: Was ist denn passiert?
I: Hannah, sie... Sie ist einfach umgekippt und... seitdem nicht mehr aufgewacht. Sie... Sie wird... sterben und das... vielleicht diese Nacht schon.
L: Oh mein Gott. Ja klar, ich komme sofort!
I: Danke...Ich suchte die Toiletten auf und stützte mich auf das Waschbecken. War das hier wirklich schon das Ende? Konnte es jetzt schon vorbei sein? Hannah hatte nie richtig zu unserer Familie gehört, aber sie war trotzdem einfach nicht wegzudenken. Sie war immer da und hatte immer gute Ratschläge parat. Wohin sollte ich gehen, wenn ich nicht mehr weiter wusste? Wer konnte mich beraten, wenn ich Streit hatte? Wer war für mich da, wenn Hannah es nicht sein konnte? Ich brauchte sie! War ihr das etwa vollkommen egal? Ich ließ mir kaltes Wasser über das Gesicht laufen und starrte in den Spiegel. Ich sollte aufhören, sie zu veruteilen. Sie hat sich das nicht ausgesucht und bestimmt nicht gewollt. Ich wünschte nur, sie würde einfach wieder aufwachen und normal weiterleben. Ich wünschte die Ärzte würden sagen ,,Es ist ein Wunder, dass Sie überlebt haben." und Hannah nach ein paar Tagen wieder nach Hause schicken. Und ich wollte ihre Stimme ein letztes mal hören, ihre Augen ein letztes mal sehen, ehe sie für immer einschlief. Ich machte mich wieder auf den Weg zurück. Es machte mich fertig. Zu warten und nicht zu wissen worauf. Einfach nichts tun zu können. Nur da stehen und auf etwas warten, von dem man hoffte, dass es nie geschah. Ich zögerte, die Türklinke in der Hand, bis ich mich dann doch dazu entschied, einzutreten. Sofort wurde ich vom Piepen empfangen, was mich allerdings beruhigte. Solange dieses Piepen ertönte, lebte sie. Und das war was gutes. Lange sah ich mir Hannah genau an, versuchte, mir jedes Detail einzuprägen. Was würde ich nur darum geben, noch eine Stunde mit ihr verbringen zu können! Ich hörte, wie hinter mir die Tür aufging. Als ich mich umdrehte, kamen Jojo und Lilly rein. Sie sah mich mitfühlend an. Dann fiel ihr Blick auf Hannah und ihr Gesichtsausdruck änderte sich zu Trauer. Sie zog mich fest in den Arm und küsste mir eine Träne weg. Aber ich konnte nur auf Hannah sehen, wie jeder andere Mensch in diesem Raum auch. Das hatte sie einfach nicht verdient!
Nach einiger Zeit wachte sie plötzlich auf. ,,Mum? Benno?" keuchte sie und verzog dann das Gesicht. Ich sah mit offenem Mund auf meine kleine Schwester. Wurde jetzt alles wieder gut? ,,Hey Hannah Schatz." sagte Mum leise, trat zu ihr und griff nach ihrer Hand. ,,Shh, alles ist gut. Bleib ganz ruhig, ja? Es ist alles gut." Hannah war nur auf Mum fixiert, die immer wieder beruhigend auf sie einredete. ,,Hast du Schmerzen?" Sie nickte. ,,W-werde ich... s-sterben?" brachte sie mühsam hervor und es schien sie eine Menge Kraft zu kosten. Ich sah rüber zu Benno, der seinen Blick nicht von ihr abwendete. ,,Das weiß ich nicht. Aber alles ist gut, ja? Alles ist gut." Hannah nickte wieder. Schwach, unmerklich, als würde sie es selbst nicht glauben. Aber vermutlich tat sie das auch nicht. ,,Danke... für alles." flüsterte sie. Und dann schlossen sich ihre Augen für immer. Das Piepen wurde immer langsamer, immer leiser. Ich drückte Lillys Hand immer fester. Kurz darauf ertönte ein langer schriller Ton, den ich die letzten Stunden so sehr gefürchtet habe. Hannah war tot. Eine Welt brach in mir zusammen. Die Welt verschwamm vor meinen Augen und ich sank weinend zu Boden. Wir sehen uns auf der anderen Seite, dachte ich. Ich brachte kein Wort heraus. Lilly zog mich in ihren Arm. Gleichzeitig flog die Tür auf und zwei Ärzte kamen rein. Wir wurden gebeten, den Raum zu verlassen.Und plötzlich war sie nicht mehr da...
Ende