Bewegungslos stand Jin in der Tür.
Seine Atmung ging flach, er zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. Einatmen. Ausatmen.
Dennoch kroch ihm die kalte Angst in die Knochen. Wie eiskalte kleine Hände schob sie sich seinen Rücken empor, hin zu seiner Brust und umschloss diese wie ein Panzer.
Blut. Überall.
Spritzer auf dem Boden, dem Teppich.
Ein großer dunkelroter Umriss in der Mitte des Bettes.
"Was ist passiert?"
Langsam, wie in Zeitlupe, drehte Jin den Kopf. Er blickte in Namjoons alarmiertes Gesicht.
So gerne hätte er etwas zu ihm gesagt. Aber es ging nicht. Seine Zunge war wie gelähmt. Jin konnte nur im Türrahmen stehen und den Ermittler ausdruckslos ansehen.
Womöglich lag es daran, an seiner Starre, dass Namjoon ihn schließlich fast schon grob zur Seite drückte, um selbst einen Blick in das Schlafzimmer zu werfen.
"Wo ist das Opfer?", fragte er harsch.
Jin schüttelte nur stumm den Kopf.
Es gab kein Opfer. Nur Blut. So viel Blut.
Selbst wenn das Opfer noch hier in der Nähe sein sollte, war es eher unwahrscheinlich, noch am Leben zu sein.
"Yun, kümmer dich um sie.", Namjoon zeigte auf das zitternde Bündel am Boden. Die Frau musste unbemerkt zusammengesackt sein, weinte nun hinter vorgehaltenen Händen.
Wie hypnotisiert stand Jin abseits, registrierte, was vor seinen Augen passierte.
Yun hockte sich neben die weinende Frau.
Namjoon telefonierte, zog sich mit den Zähnen umständlich einen Handschuh über.
Taehyung zog Jungkook hinter sich her die Treppe hinunter, an dessen Ende sich bereits eine Menschentraube gebildet hatte, die neugierig empor blickten, aber von Jimin daran gehindert wurde, womöglich noch nach oben zu kommen.
Nach beendeten Telefonat betrat Namjoon schließlich den Tatort. Seine Augen registrierten im Sekundentakt alle möglichen Spuren.
Am Teppich angekommen, ging er in die Hocke und strich vorsichtig über die dutzenden Blutspritzer darauf.
"Noch feucht.", stellte er fest.
Mit einem Blick unter das Bett und einem gestreckten Griff holte er nicht nur einen einzelnen Damenschuh, sondern auch die dazu passende Handtasche zum Vorschein.
"Jeo Ye Tak.", las er laut von dem darin befindlichen Ausweisdokument vor.
"Jeo?", rief die weinende Frau verzweifelt aus. "Oh mein Gott! Ich habe vorhin noch mit ihr getanzt. Sie wollte sich nur kurz frisch machen, weil ihr schwindelig war."
Das war das Stichwort für Namjoon, der sich suchend mehrmals hin und her drehte und schließlich ein leeres Glas auf dem Nachttisch entdeckte.
"Hat sie was getrunken?", fragte er daher, hielt seine Nase in das Glas.
"Wir haben alle was getrunken.", antwortete die Frau unter Schluchzen. "Mein Gott! Hat sie etwa der Rookie Ripper?"
Jin horchte auf.
Reflexartig sah er zu Namjoon, der ihn widerum mit einem finsteren Stirnrunzeln bedachte.
Der Reporter spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen schoss. Er wusste, dass Namjoon den Namen hasste. Besonders, da die Bezeichnung so gut angekommen war, dass diese nun jede Nachrichtenagentur des Landes übernommen hatte.
Schon einmal war es deswegen zwischen ihnen zu einem Streit gekommen. Und Jin wollte ungern, dass sich das widerholte.
Unsicher wich er daher dessen Blick aus.
Theoretisch war es aber auch egal. Er hatte sich den ganzen Abend nicht mit ihm beschäftigt. Und selbst jetzt wurde er vollkommen von ihm ignoriert.
Was machte es da schon für einen Unterschied, ob er wegen eines blöden Namens sauer wäre?
Schnaubend stieß Jin sich von der Wand ab.
Scheinbar war er ja hier eh überflüssig, wenn nicht gar unerwünscht.
Und da die Party sowieso vorbei war, konnte er auch nach Hause fahren.
Sollte Namjoon doch später mit Yun im Polizeiwagen in die Stadt zurück fahren. Dann hatte er sogar noch Gelegenheit, ihren Balztanz auszuweiten und sie danach auf seinem Schreibtisch durchzunehmen.
Jin selbst war die Lust auf alles vergangen.
Sein Weg zur Treppe führte ihn an einem kleinen Beistelltisch vorbei, auf dem ein noch halb volles Glas mit einer vermutlich alkoholischen braunen Flüssigkeit stand.
Jetzt war es auch egal.
Schulterzuckend nahm er das Glas, setzte es an die Lippen und ließ den Inhalt seine Kehle hinunter laufen.
"Bist du verrückt geworden?", herrschte Namjoon ihn urplötzlich an, kam auf ihn zugestürmt.
Oh bitte. Fing er jetzt etwa auch noch damit an?
Jin wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als der Schwindel einsetzte.
Was bitte war in diesem Glas drin? Sonst vertrug er doch auch eine relativ gute Menge an Alkohol.
"Du Idiot!", Namjoon schüttelte ihn an den Schultern. "Hatten wir nicht selbst rausgefunden, dass die Morde nur unter Einfluss von Drogen möglich sein können?"
Es fiel Jin unglaublich schwer, den Kopf oben zu behalten. Seine Sicht war verschwommen, als wäre er unter Wasser.
Dennoch konnte er Namjoons besorgten Blick erkennen. Aus seinen dunklen Augen. Diese wunderschönen fast schwarzen Augen. Jin konnte nicht anders und musste lächeln.
"Yun, er kollabiert!", schrie der Ermittler plötzlich von ihm abgewandt.
Dabei hätte Jin ihm doch noch so gerne so viel länger in seine schönen Augen geschaut.
Der Reporter hatte das Gefühl, als würde sich ein Nebel über seine Gedanken legen. Wie ein schwarzes Tuch, das ihn Stück für Stück unter sich begräbt.
Merkwürdigerweise fand er es nicht einmal unangenehm.
Die Dunkelheit um ihn herum war warm. Er hörte ein gleichmäßiges Pochen, dass ihn einhüllte, er langsam abdriftete.
Aus weiter Ferne drang Namjoons dunkle Stimme an sein Ohr: "Glaub ja nicht, dass du dich so einfach aus dem Staub machen kannst."
Schon wieder musste Jin lächeln.
Warum schaffte er es nur ständig? Er wollte doch sauer auf ihn sein.
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Artifice //Namjin//
FanfictionEr, der junge Journalist, der zum ersten Mal mit der grausamen und blutigen Realität konfrontiert wird, trifft auf den ernsten Ermittler, der eigentlich lieber alleine arbeitet. Werden sie ihre gegenseitige Abneigung und die Streitereien auf Eis leg...