Kapitel 22

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So langsam hatte er alle Formen des Regens durchgezählt.

Erst regnete es wie aus Eimern, dann wie ein feiner Sprühnebel, zwischendurch waren es dicke Tropfen, die vom Himmel platschten. Oder wie lange Fäden langsam gen Boden kroch.

Nur eins hatten alle verschiedenen Varianten gemein.

Sie waren eiskalt und verwandelten Jin über kurz oder lang in einen zitternden Eisklotz.

Einen komplett durchnässten zitternden Eisklotz.

"Warum nochmal stehen wir hier?", fragte er deshalb, versuchte den genervten Unterton in seiner bibbernden Stimme zu unterdrücken.

"Weil wir hier den besten Blick auf die Agentur haben.", antwortete Namjoon.

"Und das können wir nicht in dem netten warmen Café von letztens?", Jin klang ein bisschen flehend.

Namjoon drehte sich zu ihm um, bedachte ihm mit seinem altbekannten ernsten Blick: "Nein, können wir nicht. Es würde auffallen, wenn wir dort ewig sitzen und auf die gegenüberliegende Straßenseite starren."

"Als ob es weniger auffällig ist, wenn wir in einer zugemüllten Gasse stehen und auf die gegenüberliegende Straßenseite starren.", wiederholte Jin denselben Wortlaut.

Der Ermittler sagte nichts dazu, zündete sich lediglich eine neuerliche Zigarette an. Die achtundzwanzigste. In vier Stunden.

Eine Angewohnheit, die Jin langsam stank. Im wahrsten Sinne des Wortes.

"Kann ich mir wenigstens meinen Schirm holen?", fragte er vorsichtig, auch wenn es jetzt wahrscheinlich eh nichts mehr nutzen würde. Nass bis auf die Knochen war er sowieso schon.

"Nein.", Namjoon trat die Zigarette aus, kickte sie zu den vielen anderen in einer Ecke der Gasse. "Dieses riesige Teil würde nur auffallen."

Jin verdrehte genervt die Augen: "Wem denn? Keiner nimmt Notiz von uns. Wir stehen hier seit Stunden, mir ist kalt und ich bin klatschnass."

"Musst du vielleicht auch noch Pipi? Du klingst wie ein Mädchen.", moserte der Ermittler.

"Kein Wunder, dass keiner mit dir zusammenarbeiten will.", nuschelte Jin fast lautlos, steckte seine vor Kälte schmerzenden Hände in die Taschen seines Mantels.

Namjoon seufzte leise: "Was hat dir Yun erzählt?"

Der Reporter blickte erschrocken auf. Er hatte doch extra leise geredet, mehr zu sich selbst.

Kurz stockte er: "Nur, dass du lieber alleine bist.", gab er offen zu.

"Es ist einfacher. Ich muss keine Rücksicht auf Irgendwen nehmen.", meinte der Dunkelhaarige, ließ dabei das große Gebäude auf der anderen Seite nicht aus den Augen.

"Und warum lässt du dann zu, dass ich dich begleiten darf?", ob es wirklich so gut war, dass Jin das fragte? Er versuchte, das mulmige Gefühl in seiner Magengrube auszublenden.

Namjoon sah nur kurz zu ihm, verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen: "Ich bekomme keine Abmahnung, wenn ich dich irgendwann einfach stehen lasse."

Jin pustete die Wangen auf. Na schönen Dank auch.

Was hatte er erwartet? Eine Liebeserklärung? Einen weiteren Kuss?

Nachdenklich betrachtete er Namjoons Rücken, seinen Nacken mit dem Haaransatz. Er fragte sich, wie es sich wohl anfühlen würde, mit gespreizten Fingern durch seine dunklen Haare zu fahren.

Ob er die weiche Haut von Namjoons Hals auf seiner Zunge fühlen könnte, wenn er langsam darüber leckte und seinen Herzschlag unter den Lippen spürte.

Artifice //Namjin//Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt