Kapitel 96

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"Es geht mir wirklich gut.", beteuerte Jin nun zum gefühlt hundertsten Mal.

Namjoon schien das dennoch nicht zu interessieren.

Wie ein Wachhund lief er immer wieder vor dem Rettungswagen hin und her, runzelte dabei jedesmal die Stirn, wenn er zu dem Reporter aufsah.

"Das ist wirklich nicht nötig.", abwehrend hob Jin die Hand, als die junge Ärztin dabei war, eine Spritze aufzuziehen.

"Doch ist es.", meinte sie schulterzuckend. "Eine Vorsichtsmaßnahme zum Schutz gegen Tetanus. Wir wissen nicht, ob die Stichwaffe verunreinigt war."

Jin hasste Spritzen.

Vielleicht verzog er deshalb fast schon ängstlich das Gesicht.

"Aber es ist doch nur ein oberflächlicher Kratzer.", versuchte er zu argumentieren.

Tatasächlich war der Schnitt nicht ganz so tief wie erst angenommen. Das meiste hatte seine Lederjacke abgekommen, die jetzt Schrott war.

Genauso wie sein Pullover. Auch der wurde mit einem etwa fünf Zentimeter langen Schnitt versehen und durch die blutende Wunde tiefrot vollgesogen.

Viel schlimmer war allerdings, dass Jin wie ein Mädchen beim Anblick der Verletzung in Ohnmacht gefallen war.

Und Namjoon ihn durch den kompletten Park bis zum Krankenwagen getragen hatte.

All das wegen einem simplen Schnitt, der nicht einmal genäht werden musste.

"Wenn du nicht bald aufhörst, setze ich dir die Spritze, verstanden?", drohte der Ermittler mit zu Schlitzen verengten Augen.

Leicht schockiert starrte Jin ihn an. Erwachte erst aus seinem Zustand, als er einen stechenden Schmerz in seinem Oberarm spürte.

Diese elende Ärztin hatte ihm einfach ohne Vorwarnung die versprochene Impfung gespritzt. Und er war sich sicher, ein kurzes Grinsen in Namjoons Mundwinkeln gesehen zu haben, bevor dieser sich wegdrehte, weil Yun angerannt kam.

Die beiden unterhielten sich leise, wirkten angespannt. 

"Was ist los?", fragte Jin neugierig und ein wenig besorgt.

Yun schaute alarmiert zu ihm auf: "Er lebt noch."

Verwirrt deutete der Reporter ein Kopfschütteln an: "Ich verstehe nicht. Wer lebt?"

"Das Opfer.", antwortete Namjoon statt der jungen Polizistin. Er sah zu dem anderen Rettungswagen, in welchem das Mordopfer eigentlich in die Gerichtsmedizin transportiert werden sollte.

Eigentlich.

Erst nach und nach verstand Jin die Tragweite dieser Worte.

Unvorstellbar, dass der junge Mann trotz seiner extremen und lebensgefährlichen Verletzungen noch immer am Leben sein sollte.

Als der Reporter vorhin wieder zu Bewusstsein gekommen war, konnte er einen kurzen Blick auf das Opfer werfen. Was er sofort bereut hatte.

Wie auch bei den vorherigen Rookies, die dem Mörder zum Opfer gefallen waren, wurde das komplette Gesicht zerschnitten. Die Hautlappen hingen an den Seiten herunter und gaben den Blick frei bis teilweise auf den Knochen.

Zusätzlich wurden die Augen entfernt. 

Jin war sich außerdem sicher, dass die Nase des Mannes zur Hälfte fehlte und nur noch ein blutiger Stumpf war.

"Diesmal hat der Killer sich wohl sicher gefühlt und so wesentlich mehr Zeit gelassen.", meinte Yun mit belegter Stimme. "Dem Opfer wurden die Fingernägel gezogen und die Kuppen bis auf den Knochen freigelegt."

Jin wurde schlecht.

Und das lag definitv nicht an seiner Verletzung.

"Wissen wir schon, wer es ist?", erkundigte sich Namjoon, professionell wie immer.

Yun schaltete ihr Tablet an, auf dem das Gesicht eines wirklich gutaussehenden jungen Mannes zum Vorschein kam, der sogar Jin kurz den Atem stocken ließ.

Mit den kantigen Gesichtszügen, der perfekt geraden Nase und besonders den auffälligen Augen wirkte er wie gemalt, beinahe schon unrealistisch.

Kein Wunder also, dass er dem Mörder aufgefallen war.

"Sein Name ist Lee Taeyong. Er ist Tänzer, Rapper und Sänger. Gehört zu einer erst neu gegründeten Unit, die allerdings mit Ihrem Debüt bereits eine Menge Aufsehen erregt hat.", lass sie die Informationen vor.

"Was ist mit seinem Freund?", erinnerte sich Jin plötzlich an den Zeugen vorhin, der so unglaublich viel zu sagen hatte.

"Der ist sediert.", kam die knappe Antwort aus Yuns Mund. "Schock und so."

Überrascht blickte der Reporter die Polizistin an: "Aber er wirkte eigentlich relativ gefasst."

"Glaub mir, es war besser so. Ansonsten hätte ich irgendwann von meiner Waffe Gebrauch machen müssen.", meinte sie zynisch.

Jin verkniff sich ein Grinsen. Scheinbar hatte sie ebenfalls Bekanntschaft mit ihm machen dürfen. Ihm und seinem enormen Redebedarf.

"Wären wir nur 10 Minuten eher gekommen...", sprach Namjoon plötzlich, mehr zu sich selbst. "Ich hätte ihn kriegen können."

"Oder er hätte Jin wirklich abgestochen.", warf Yun genervt ein. Und handelte sich damit einen wirklich wütenden und fast schon angsteinflößenden Blick von dem Ermittler ein.

"Heißt das, das war der...", Jin schnappte erschrocken nach Luft, als er auf seine verbundene Wunde zeigte.

Plötzlich wurde ihm heiß und kalt zugleich.

Soll das bedeuten, er war dem Killer so nah? Hatte quasi seinen Atem spüren können.

Sein Herz raste, unkontrolliert holte er Luft.

"Beruhige dich."

Namjoons Gesicht tauchte vor seinem auf. Der Ermittler blickte ihn besorgt an, legte ihm beide Hände auf die Schultern.

"Er hätte mich töten können.", stotterte der Reporter.

"Wahrscheinlich hatte er das auch vorgehabt, wenn ich mir deinen Arm so ansehe.", meinte Yun.

"Es reicht!", brüllte Namjoon sie so laut an, dass nicht nur die Polizistin, sondern auch alle Umstehenden schockiert zusammenzuckten.

Jin war der erste, der langsam wieder aus der Starre erwachte.

Um den Ermittler zu beruhigen, berührte er mit den Fingerspitzen vorsichtig dessen Brust.

Der schloss die Augen, atmete tief durch und lehnte seine Stirn schließlich gegen die des Reporters.

"Ich brauche dringend einen Drink.", seufzte er leise.

Sanft lächelnd entgegnete Jin ebenso leise: "Wie gut, dass wir direkt gegenüber einer wirklich netten Bar sind."

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Artifice //Namjin//Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt