Kapitel 73

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"Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich die richtige Adresse sein soll.", Jin beugte sich über das Lenkrad und schaute zu dem großen Bauwerk empor.

"Laut Yun schon.", auch Namjoon runzelte die Stirn. "So langsam übertreibt es unser Killer, wenn du mich fragst."

Mit klopfendem Herzen stieg der Reporter aus, ging langsamen Schrittes auf die Kirche zu.

Warum ausgerechnet hier?

"Er spielt mit uns.", stellte Namjoon fest. An der Treppe zur Hauptpforte angekommen deutete er auf die Spur weißer Lilien, die nach innen führten.

"Welche Kirche ist das?", Jin hielt ehrfürchtig den Atem an, als sie eintraten.

Vor ihm taten sich mehrere hölzerne Sitzreihen auf, zwischen denen immer wieder im regelmäßigen Abstand steinerne Säulen standen, die zu Rundbögen aufragten.

Die hell gestrichene hohe Decke war ebenfalls von dunklen Steinbögen durchzogen. Schwere kupferfarbene Kronleuchter erhellten den eigentlich lichtdurchfluteten Raum.

Zum Altar hin führte ein schwerer roter Teppich, auf dem sich im Laufe der Jahre von Hunderttausenden Schritten bereits eine dunkle mittlere Spur gebildet hatte.

"Es handelt sich um die Myeongdong Kathetrale der Jungfrau Maria von der unbefleckten Empfängnis."

Überrascht drehte Jin sich zu der Stimme um.

Ein grauhaariger älterer Herr in einem typischen Priestergewand hatte sich unbemerkt zu ihnen aufgeschlossen.

"Haben Sie das Opfer gefunden?", erkundigte Namjoon sich in sachlichem Tonfall.

Der ältere Mann nickte: "Als ich alles für die Andacht vorbereiten wollte. Vor Schreck habe ich direkt den Messwein fallen lassen.", er bekreuzigte sich. "Wer tut so etwas? In einem Haus Gottes."

Namjoon notierte sich alles in seinem Block, sah nicht einmal auf.

"Haben Sie irgendetwas merkwürdiges bemerkt oder vielleicht sogar jemanden Unbekanntes hier gesehen in der letzten Zeit?", fragte Jin weitaus freundlicher den Priester.

Der schüttelte den Kopf.

"Diese Kirche ist sehr berühmt und auch beliebt bei Touristen. Die meisten Besucher sehe ich nur aus der Ferne.", gab er offen zu.

"Kameras?", fragte Namjoon knapp.

"In einer Kirche?", der Priester riss die Augen auf, was der Ermittler nur mit einem Schulterzucken beantwortete.

"Wir werden uns ein wenig umsehen, in Ordnung? Gibt es etwas, dass wir beachten sollten?", erkundigte Jin sich schnell.

Verwirrt deutete der Prister ein Kopfschütteln an: "Dieses Haus ist durch diese gotteslästerliche Tat entweiht. Schlimmer kann es nicht mehr kommen. Wie kann ein Mensch nur so eine deartige Sünde begehen?"

"Willkommen in der Realität.", murmelte Namjoon so leise, dass nur Jin es hören konnte und drehte sich zum Gehen um.

"Wieso bist du eigentlich immer so gefühllos gegenüber anderen?", fragte Jin, als er endlich zu ihm aufgeschlossen hatte.

"Zu dir auch?", erkundigte sich der Ermittler, zog die Augenbraue hoch.

Kurz überlegte der Reporter, nickte dann aber: "Am Anfang schon."

Durch Namjoons Körper ging ein leichtes Zucken. Als hätte er einen Stromschlag bekommen.

"Das hatte seine Gründe.", meinte er knapp, wich dem Blick des Reporters aus.

Dieser konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Allerdings wollte er nicht weiter darauf eingehen. Zumindest nicht jetzt.

Jetzt war nur das hier wichtig.

Beim Altar angekommen fiel Jin als erstes die Kleidung auf.

Ein langes flatterhaftes weißes Kleid, das an den Seiten des niedrigen Opfertisches herunter hing.

Diesmal also wieder eine Frau.

Sie war aufgebart wie bei einer Beerdigung, die Hände zusammengefaltet auf dem Bauch.

"Weibliches Opfer, etwa Miitte 20, Identität noch unbekannt.", las Namjoon von einem ihm zugereichten Blatt ab. "Todeszeitpunkt zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens."

"Warum ist die Identität unbekannt?", erkundigte Jin sich, ging einen Schritt nach vorn auf den Leichnam zu.

"Höchstwahrscheinlich, weil ihr der Mörder das Gesicht abgeschält hat wie eine Orange.", meinte der Ermittler zynisch.

"Netter Vergleich.", merkte Jin an, unterdrückte den Reiz, sich übergeben zu müssen. Kurz schloss er die Augen, versuchte irgendwie, sich an den ekelhaften Anblick zu gewöhnen.

"Diesmal hat er das volle Programm durchgezogen.", Namjoon schlüpfte in seine Handschuhe. "Die Augen sind weg, die obersten Hautschichten auch. Lippen vernäht, die Zunge liegt hier."

Je länger die Aufzählung andauerte, umso unwohler fühlte sich Jin. Der metallische Geschmack in seinem Mund nahm zu. Langsam atmete der Reporter ein und aus.

"Finger gebrochen, Beine ebenso. Keine äusseren Anzeichen auf Missbrauch.", sprach Namjoon ruhig weiter. "Er hat sich die ganze Nacht an ihr ausgetobt."

Jin bewunderte den Ermittler dafür, dass er sich äusserlich nichts anmerken ließ. Liebend gerne würde er selbst ebenso professionell aussehen.

Stattdessen unterdrückte er das immer stärker werdende Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Wand sich nun endgültig von dem blutigen Leichnam ab.

"Dieser Wichser macht sich lustig über uns!", brüllte Namjoon plötzlich, trat gegen einen der hohen goldenen Kerzenleuchter, welcher scheppernd zu Boden fiel.

Schockiert blickte Jin den Ermittler an. Nicht fähig, sich zu rühren, geschweige denn etwas zu sagen.

Keiner der Umstehenden konnte das.

"Wir haben nichts. Gar nichts!", redete Namjoon sich richtig in Rage. "Und dieses Arschloch schlachtet einen nach dem anderen ab. Verflucht nochmal!"

"Namjoon.", versuchte Jin es nun doch in ruhigem sanften Ton. "Nicht in einer Kirche."

"Warum nicht? Glaubst du ernsthaft, dass es wirklich einen Gott gibt, der so etwas zulässt?", blaffte sein Gegenüber ihn an.

Der Reporter zuckte kurz erschrocken zusammen, ging dann jedoch auf ihn zu, um ihm beruhigend die Hand auf die Schulter zu legen. Er spürte, dass Namjoon zitterte, sprach es jedoch nicht an, sondern schob ihn nur vorsichtig aus dem Altarbereich.

"Ich kann nichts dagegen tun, dass sie sterben. Ich habe nicht einmal den Ansatz einer Spur. Schon wieder stirbt jemand wegen mir.", flüsterte der Ermittler leise zu sich selbst.

Jin zeriss es innerlich. Noch nie hatte er ihn so gesehen. So schwach und hoffnungslos.

Er wollte nicht, dass Namjoon so leiden musste.

Die ganze Enthüllung über den Tod seines Partners schienen ihn doch mehr mitgenommen zu haben, als angenommen. Nicht verwunderlich.

Wer weiß, wie Jin reagiert hätte, wenn ihm enthüllt worden wäre, dass er sein halbes Leben lang belogen wurde.

"Lass deine Leute den Rest hier machen, ich bring dich nach Hause, in Ordnung?", versuchte der Reporter, ihn zu beruhigen.

"Welches zu Hause?", erkundigte sich Namjoon schwach lächelnd.

Was auch Jin zum Grinsen brachte.


Artifice //Namjin//Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt