Kapitel 42

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Ausgerechnet hier.

Unverständlich, wie der Mörder es geschafft hatte, das Opfer ausgerechnet hier zu deponieren.

Hatte wirklich niemand etwas gesehen?

"Gibt es Kameras?", erkundigte sich Namjoon bei einem der umstehenden Polizisten.

"Der Eingang der Agentur wird überwacht und ein Großteil der Straße. Außer diese Ecke.", erklärte der bärtige Uniformierte.

"Natürlich. Keine Überraschung.", knurrend wand der Ermittler sich wieder dem Tatort zu.

"Das Mädchen wurde im Morgengrauen von ein paar letzten feiernden Nachzüglern entdeckt.", las Jin die Aufzeichnungen der als erstes eingetroffenen Rettungskräfte vor.

Für ihn war das ein unglaubliches Privileg, dass Namjoon ihm diese Aufgabe zugewiesen hatte.

Aber wahrscheinlich wollte er ihn nur beschäftigen und davon abhalten, der Leiche zu nah zu kommen.

Anhand des Berichtes wusste er bereits, dass dem aktuellen Opfer die Augen entfernt wurden.

Irgendwie hatte er das fast schon vermutet anhand der großen Blutmenge, die in der Villa hinterlassen wurde.

Schon das zweite Mal.

Krampfhaft überlegte Jin, warum jeweils immer nur eine Art der Folter angewandt wurde.

Warum quälte der Killer jedes einzelne Opfer auf so unterschiedliche Arten?

Höchstwahrscheinlich, weil er psychopathisch veranlagt war. Aber dennoch hatte man das Gefühl, es stecke etwas dahinter.

Ein tieferer Sinn.

Das aktuelle Opfer war erneut ein Rookie von GS. Ihre zugeteilte Gruppe stand kurz vor der Veröffentlichung.

Jin hatte sich bereits informiert und wusste, dass das Mädchen den Platz als Visual erhalten hatte.

Wie das andere Opfer damals.

Schlagartig wurde es ihm klar. Suchend drehte er sich nach Namjoon um.

Dieser hockte neben der Toten, untersuchte sie scheinbar nach irgendwelchen Spuren.

"Namjoon. Ich meine Ermittler Kim.", trat Jin auf ihn zu.

"Willst du mich ernsthaft siezen?", fragte Namjoon schmunzelnd, sah aber nicht zu ihm hoch.

Im ersten Moment runzelte der Reporter verwirrt die Stirn.

Warum stellte er so eine Frage? Natürlich würde er ihn am Tatort mit genügend Respekt behandeln. Und dazu gehörte nun mal auch, ihn in der Öffentlichkeit zu siezen.

"Mir ist etwas aufgefallen.", erklärte Jin ein bisschen leiser.

Nun blickte Namjoon doch zu ihm auf: "Hat es was mit ihren Augen zu tun? Die hab ich nämlich noch nicht gefunden."

Der Reporter holte kurz Luft, als wolle er etwas sagen, schloss den Mund aber direkt wieder.

Zwanghaft versuchte er, nicht in das Gesicht des Opfers zu sehen. Stattdessen studierte er die unmittelbare Umgebung.

"Da hinten ist die Blume.", er zeigte auf eine niedrige Holzbank, die unmittelbar an der Hauptstraße stand.

"Natürlich auch außerhalb der Kameras.", stellte Namjoon frustriert fest. "Dieser Typ kennt sich hier aus. Auf jeder der Aufnahmen ist er grundsätzlich im toten Winkel."

"Er muss also vorher schon mal hier gewesen sein, um alles auszukundschaften.", mutmaßte Jin. "Oder er arbeitet hier."

Nachdenklich erhob Namjoon sich, zog die Handschuhe von den Händen. Sein Blick glitt über die vielen Schaulustigen, die sich hinter der Absperrung tummelten.

"Was ist dir aufgefallen?", fragte er schließlich an Jin gewandt.

Der zuckte kurz zusammen, als er angesprochen wurde und räusperte sich umständlich, bevor er antwortete: "Es scheint einen Zusammenhang zwischen der Tötungsart und dem Job der jeweiligen Opfer zu geben."

"Sie haben alle dasselbe gemacht.", erwiderte Namjoon zynisch.

"Ja. Nein.", Jin wollte seine Vermutung nicht mitten am Tatort und vor allem nicht direkt neben der Leiche erklären.

Kurzerhand ergriff er den Oberarm des Ermittlers und zog ihn an diesem mit sich in eine angrenzende Apotheke, die aufgrund der unmittelbaren Nähe zum Tatort geschlossen und geräumt wurde.

Namjoon ließ sich zwar mitziehen, schenkte seinem Gegenüber jedoch einen verwunderten Blick, als dieser plötzlich vor einem der Regale stehen blieb.

"In einer Band hat jeder einen speziellen Job. Es gibt die Sänger, Tänzer, Rapper und Visuals.", zählte Jin auf. "Und dieses Mädchen da draußen war so ein Visual. Genauso wie das Opfer damals im Hotelzimmer."

"Du meinst, der Killer hat für jeden dieser Jobs eine eigene Methode entwickelt?", hakte Namjoon ungläubig nach.

Der Reporter nickte: "Wenn man erstmal darüber nachdenkt, macht es Sinn. Die ersten Opfer waren Sängerinnen, denen er die Lippen zugenäht hat. Dann der Tänzer. Dem hat er die Beine gebrochen."

"Und dieser Mark ohne Zunge war was?"

"Rapper.", schluckte Jin.

Genervt seufzte der Ermittler auf: "Fantastisch. Jetzt ist der Killer nicht mehr nur sadistisch, sondern hat sogar einen eigenen Hintergrund entwickelt. Und ich hab gedacht, du ziehst mich hier rein, weil du mich anmachen willst."

Überrascht riss Jin die Augen auf.

"Was?", stotterte er, kaum fähig, sich zu rühren.

Wie kam er bitte auf so eine absurde Idee? Das hier war ein Tatort. Im Traum würde es ihm nicht einfallen, ihn ausgerechnet hier anzumachen.

Namjoon antwortete nicht, sondern zeigte nur grinsend hinter Jin.

Erst als dieser sich umdrehte, wurde ihm klar, was der Ermittler meinte.

Unbewusst hatte er ihn ausgerechnet vor das prall gefüllte Regal mit einer riesigen Auswahl an Kondomen gezogen.

"Das ist nicht, wonach es aussieht.", versuchte Jin zu erklären. "Das war ein Versehen."

"Mach dir keine Sorgen, ich hab noch genug zu Hause.", antwortete Namjoon nur schulterzuckend und verließ die Apotheke wieder.

Jin dagegen stand wie bestellt und nicht abgeholt, starrte dem Dunkelhaarigen mit offenem Mund hinterher.

"Kommst du? Ich brauche dringend einen Kaffee.", rief Namjoon im Gehen.

"Nicht nur du.", flüsterte Jin kopfschüttelnd und folgte ihm.

Artifice //Namjin//Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt