Kapitel 71

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Obwohl der Regen endlich aufgehört hatte, zumindest für den Moment, schien die Luftfeuchtigkeit kein Stück zurückgegangen zu sein.

Der kühle Wind fühlte sich noch immer an wie tausende kleiner Nadeln, die jedes Stück freigelegte Haut trietzten.

"Wie lange müssen wir noch hier sitzen?", fragte Namjoon. Er machte keinen Hehl daraus, dass er entweder gelangweilt oder genervt war. Wahrscheinlich beides.

"Entspann dich doch einfach.", antwortete Jin, verdrehte innerlich die Augen. "Schau auf das Wasser."

"Ich bin entspannt.", murrte der Ermittler.

"Natürlich. Deswegen rauchst du auch die ganze Zeit und wippst ungeduldig mit dem Fuß.", erneut rollte Jin die Augen, diesmal offensichtlich.

Eigentlich wollte er ihm etwas Gutes tun und ein wenig Ruhe gönnen. Einfach nur auf einer Bank am Fluss sitzen und den Dingen ihren Lauf lassen.

Namjoon schnaubte: "Wir könnten schon längst wieder zu Hause sein, um die Akten nochmal durchzugehen. Vielleicht haben wir irgendwas übersehen."

"Zu Hause?", fragte Jin schmunzelnd nach.

"Deine Wohnung. Du weißt schon.", der Ermittler wich konsequent seinem Blick aus, schaute nun doch stur auf das Wasser vor sich. Allerdings wohl nicht, um zu entspannen, wie es eigentlich sein sollte.

"Ich finde es schön, wenn du es als zu Hause bezeichnest.", gab der Reporter ehrlich zu. "Vielleicht könntest du ja...", er brach ab. Nur um gleich wieder anzusetzen: "Also, nur wenn du willst."

Namjoon musterte ihn skeptisch, hob fragend eine Augenbraue.

Tief atmete Jin ein, ehe er argumentierte: "Meine Wohnung ist größer. Und näher am Revier."

Er beobachtete den Dunkelhaarigen genau.

Dieser drehte erneut den Kopf zum Fluss, zog nachdenklich an seiner Zigarette.

"Nimm es mir bitte nicht übel, wenn ich im Moment einfach keinen Kopf für solche Entscheidungen habe."

"Ja, natürlich. Tut mir leid.", wiegelte Jin ab.

Trotzdem verursachte die Antwort einen kleinen Stich in ihm.

Vielleicht war es auch dumm von ihm gewesen, das Thema ausgerechnet jetzt anzusprechen. Natürlich drehten sich Namjoons Gedanken aktuell sicher um ganz andere Dinge als sowas Belangloses.

Obwohl es an sich gesehen nicht belanglos war. Zumindest nicht für Jin.

"Ist dir eigentlich mal aufgefallen, dass hier nur Pärchen rumlaufen?", meinte Namjoon plötzlich, was Jin überrascht aufsehen ließ.

"Stimmt.", stellte er mit Blick auf die vielen jungen Paare fest, die Händchen haltend am Wasser entlang schlenderten oder sich schüchtern küssten.

"Das ist ein beliebter Treffpunkt für Dates.", erklärte er Reporter. "Da drüben ist ein Café, in dem sich viele verabreden."

Ihm entging nicht Namjoons forschender Blick und das leichte Stirnrunzeln.

"Das verstehst du falsch.", schnappte Jin nach Atem. "Ich bin ganz oft hier. Allein. Wegen der Aussicht."

Okay, das kling sogar für ihn selbst irgendwie albern. Er konnte verstehen, warum Namjoon den Verdacht hegte, das hier wäre irgendwie geplant gewesen.

Peinlich berührt senkte Jin den Blick, knetete nervös seine Finger im Schoß.

Deshalb war er umso überraschter, als plötzlich Namjoon seine Hand ergriff und sie sanft drückte.

Er blickte Jin nicht an, sondern sah weiter stur nach vorne.

Aber das machte nichts. Allein diese Geste machte den Reporter glücklich.

Sie mussten nicht einmal wie die anderen spazieren gehen oder sich verliebte Blicke zuwerfen.

Einfach hier sitzen und die Wärme des anderen spüren war genug.

"Du hast kalte Hände.", stellte Jin dennoch nach einer Weile fest.

"Ist vielleicht nicht das passende Wetter für so einen Ausflug.", merkte Namjoon schulterzuckend an.

Das ließ der Blonde sich nicht zweimal sagen.

Schnell sprang er auf, erklärte beim erschrockenen Blick seines Gegenübers: "Du wartest hier. Ich hol dir einen Kaffee."

"Aber einen richtigen.", Namjoon verengte die Augen.

"Schon klar. Kein Gangnam-Gesöff.", nickte Jin. "Dafür versprichst du, brav hier sitzen zu bleiben und aufs Wasser zu schauen. Entspannen und so weiter."

Der Ermittler zog die Brauen zusammen: "Hol einfach den Kaffee."

Den Kragen seines Mantels hochklappend machte Jin sich auf den Weg zu einem der vielen kleinen Coffee-Shops, die an der Uferpromenade lagen. Gleich den ersten betrat er und war kurz überrascht, wie gut dieser besucht war.

Gemütlich war es. 

In hellen Pastelltönen gestrichen und mit etwa einem Dutzend runder Bistrotische und passenden Korbsesseln.

Jin hatte auf der großen Tafel, welche hinter der Theke ausgehängt war, recht schnell gefunden, was er trinken wollte.

Namjoons Wunsch war ja relativ leicht zu erfüllen.

Geduldig wartete er, an die Reihe zu kommen, überflog mit den Augen die bunte Auswahl an vielen verschiedenen Kuchen und Törtchen.

Ob er irgendwas davon Namjoon mitbringen sollte?

Stirnrunzelnd stellte er fest, dass er eigentlich gar nicht wusste, ob der Ermittler ein Fan von solchen süßen Naschereien war.

Genau genommen wusste Jin kaum etwas Alltägliches über ihn. Gut, er rauchte. Und trank Kaffee.

Und war ein furchtbarer Autofahrer.

Aber weder wusste Jin seine Lieblingsfarbe, noch was er gerne isst. Nicht einmal seinen Geburtstag.

Frustriert bließ Jin die Luft aus den Backen.

Er bestellte nur den Kaffee. Für den Rest wollte er sich erst bei Namjoon selbst erkundigen.

Während er auf seine Bestellung wartete, sah er sich weiter neugierig in dem kleinen Laden um. 

Vielleicht sollte er irgendwann nochmal mit Namjoon herkommen. Wie bei einem richtigen Date.

Der Gedanke ließ Jin lächeln.

Spätestens, als er den Blick hob, gefror ihm selbiges jedoch.

An einem der Bistrotische saß ein ihm mehr als bekannter junger Mann und musterte ihn ungeniert, starrte richtig.

Sein petrolfarbenes Haar unter einer Mütze versteckt, war er auf den ersten Blick nicht zu erkennen.

Nur sein Gesicht verriet ihn. Die stechenden Augen, die unverwechselbaren Lippen.

"Taemin...", flüsterte Jin lautlos.

Artifice //Namjin//Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt