Kapitel 49

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Die Sonne war bereits wieder untergegangen. Wenn man das so nennen konnte.

Eigentlich schien es eher so, als würde sie nie richtig aufgehen.

Durch die tiefgrauen Regenwolken, die auch tagsüber nicht aufklarten, lag die Stadt immerzu in einem düsteren Zwielicht da.

Es wurde einfach nicht hell.

Geschweige denn warm.

Jin konnte sich kaum noch erinnern, wann er das letzte Mal ohne Jacke oder Regenschirm die Wohnung verlassen hatte.

Zumindest war er jetzt ein wenig wacher.

Nachdem er sich ein paar Stunden hingelegt hatte, während Namjoon auf die Ergebnisse der Gerichtsmedizin gewartet und seine Notizen auf die Tafel in seinem Büro übertragen hatte.

Schlief dieser Mann eigentlich auch mal?

Und wieso sah er trotz allem dann noch immer so hinreißend gut aus?

Der Ermittler stoppte den Wagen und schaltete nach einigen Sekunden den Motor ab.

So langsam schien er sich an den Mercedes gewöhnt zu haben. Sie nutzten ihn fast nur noch.

Auch wenn Namjoon noch immer sehr bedacht und vor allem langsam damit fuhr.

Jin hoffte daher inständig, dass sie niemals in eine Verfolgungsjagd gerieten.

"Was wollen wir hier?", erkundigte sich der Reporter stirnrunzelnd.

Ihr Weg hatte sie nach Itaewon geführt. Einem Viertel, dass nicht nur für seine vielen Restaurants und Diskotheken bekannt war, sondern vor allem für die zwielichtigen Bars und Stundenhotels.

Die dutzenden roten Neonreklamen priesen neben günstigen Preisen auch mit zweideutigen Slogans weit mehr als nur normale Massagen an.

In Südkorea war Prostitution illegal, dennoch wusste Jin aus eigener Erfahrung, wie einfach es teilweise war, gegen das nötige Kleingeld Frauen und Männer kennenzulernen, die ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf ihres Körpers bestritten.

Selbst ehemaliger Sänger beteiligten sich nebenher unter dem Deckmantel eines Clubs oder einer Bar an den lukrativen Geschäften mit dem horizontalen Gewerbe.

Jin hatte oft genug selbst Angebote erhalten.

"Was denkst du?", stellte Namjoon als Gegenfrage, hob provokativ die Augenbrauen.

Dem Reporter wurde heiß und kalt zugleich.

Sie standen hier. Im Dunkeln. Abseits der überfüllten Straßen. Vor einem Stundenhotel!

Konnte es etwa wirklich sein, dass Namjoon den letzten Schritt ihrer Beziehung in Angriff nehmen wollte?

Wenn es überhaupt eine Beziehung war.

Bisher hatte sich keiner der beiden wirklich dazu geäusserst.

Eigentlich hatte Jin auch nicht explizit danach gefragt.

Auch, weil er Sorge hatte, welche Antwort ihn erwartet.

Im Moment genoss er einfach das Zusammensein und die damit einhergehende Nähe. Und ja, wahrscheinlich würde er sich auch auf weit mehr einlassen, als die bisherigen Zärtlichkeiten.

Aber ausgerechnet jetzt? Und dann noch hier?

"Ich hab dich wirklich gern und so.", stotterte Jin, bemühte sich, nicht allzu nervös zu wirken.

"Du hast mich also gern.", stellte Namjoon schmunzelnd fest.

Und brachte den Reporter damit noch mehr in Erklärungsnot.

"Naja, schon. Vielleicht auch mehr.", er biss sich auf die Unterlippe, drehte immer wieder den Kopf in die Richtung des Etablissements. "Aber vielleicht sollten wir nicht unbedingt hier..."

Sein Kopf war wie leer gefegt.

"Sollten wir nicht?", hakte der Dunkelhaarige neugierig nach, lächelte dabei so unschuldig, als würde es ihr Gespräch nicht gerade von leidenschaftlichem ausdauernden Sex handeln.

Jin schüttelte verwirrt den Kopf, um den aufkeimenden Bildern in seinen Gedanken keine Projektionsfläche zu geben.

Er konnte ja schlecht Widerworte geben und gleichzeitig enttarnte ihn sein Körper.

Ehe er sich noch weiter in die Bredouille reden konnte, wurde sein Mund bereits von Namjoons Hand verschlossen.

Er beugte sich vom Fahrersitz zu ihm herüber, sah ihm tief in die Augen.

"Es ist beruflich. Keine Angst.", verzog er seine Lippen zu einem Lächeln.

Jin blickte ihn fragend an.

Namjoon machte eine Geste zu den hell blinkenden Läden auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

"Ich habe dort Kontakte, die uns eventuell Informationen zu der Tättowierung verraten können.", erklärte er.

Langsam ließ er seine Hand sinken, gab den Reporter so wieder frei, der ihn noch immer verwirrt betrachtete.

"Na los.", der Ermittler öffnete die Fahrertür. "Du hast mir deine Lieblingsbar gezeigt, jetzt zeige ich dir meine."

War das sein Ernst?

Das war ein Bordell. Wollte er ernsthaft sagen, dass er hier Stammgast war?

Artifice //Namjin//Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt