Kapitel 34

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58 Sekunden dauerte es, bis er endlich die Kraft aufbrachte, seinen Kopf zu drehen.

47 Sekunden, bis er die ersten Geräusche vernahm. Nicht unbedingt viele, wie er bemerkte.

Ein leises gleichmäßiges Ticken. Weit entfernter Straßenlärm.

War er im Krankenhaus?

Merkwürdigerweise roch er gar nicht diese typische Mischung aus Desinfektion und Weichspüler.

Stattdessen kam ihm der Duft bekannt vor. Leicht herb, ein bisschen nach Zigarette.

Wie Namjoon.

War er hier? So nah, dass Jin sein Aroma wahrnehmen konnte?

Aber es fühlte sich nah an. Als läge er direkt in seinen Armen.

Nach weiteren 62 Sekunden, die er gezählt hatte, zwang er sich endlich, die Augen zu öffnen. Stück für Stück. Milimeter für Milimeter.

Das Licht, welches ihm entgegen schlug, war zum Glück nicht grell weiß, sondern eher gelblich warm. Wodurch ihm zumindest Kopfschmerzen erspart blieben.

Wer auch immer ihn hier abgelegt hatte, war äusserst zuvorkommend mit der Beleuchtung.

Jin versuchte, sich zu orientieren.

Der Nebel vor seinen Augen lichtete sich, gab den Blick frei auf ein kleines Fenster, an desen Scheibe Regentropfen glitzerten.

Er lag in einem Bett.

Kein Krankenbett. Ein richtiges. Privates.

In dem normalerweise sicher jemand anderes schlief.

"Wie geht es dir?"

Jin schreckte hoch. Zu schnell.

Sein Kopf bedankte sich für die plötzliche Bewegung mit einem stechenden Schmerz.

"Du solltest dich noch ein bisschen ausruhen.", riet Namjoon ihm.

Der Ermittler saß in einem von diesen Schwingsesseln, die irgendwann mal Trend waren und jeder so ein Teil sein Eigen nennen musste, und blickte mustern in seine Richtung.

Müde wirkte er. Unter seinen Augen zeugten dunkle Ringe von einer langen schlaflosen Nacht.

Wie spät war es eigentlich?

"Wie...", versuchte Jin zu fragen, hustete allerdings schwer, als seine Stimme brach.

"Auf dem Nachtschrank steht ein Glas Wasser.", zeigte ihm Namjoon und Jin trank selbiges sofort dankbar aus.

Dabei hatte er Gelegenheit, sich unauffällig ein wenig umzusehen.

War das die Wohnung des Ermittlers?

Kleiner als seine eigene. Viel kleiner. Typischer Standard. Ein wenig chaotisch vielleicht.

Auch hier war alles mit Büchern, Zetteln und dicken Aktenordnern vollgestellt.

Eigentlich sah es optisch fast so aus wie in Namjoons Büro. Bis auf die Tatsache, dass hier noch ein Bett stand und sich in einer Ecke eine kleine Kochnische befand.

Aber warum hatte er Jin ausgerechnet hierher gebracht?

"Ich kenne den Türcode deiner Wohnung nicht.", meinte Namjoon plötzlich.

Jin zuckte zusammen, starrte ihn überrascht an.

Hatte er seine Gedanken gerade laut ausgesprochen? Oder konnte man ihm an der Nasenspitze ansehen, was in seinem Kopf vorging?

"2013.", sagte Jin fast lautlos, fügte hinzu, als er Namjoons fragenden Blick sah: "Mein Code. Für zu Hause."

Der Ermittler nickte.

Ansonsten schwieg er ihn an.

Jin räusperte sich umständlich: "Was ist eigentlich..."

"Passiert?", hakte sein gegenüber nach. Nun war es an Jin stumm zu nicken.

"Du hast ein Glas geext, das vergiftet war."

"Vergiftet?", die Augen des Reporters weiteten sich.

Namjoon lächelte milde: "Erinnerst du dich an unsere Theorie, dass die Opfer mit irgendwas gefügig gemacht wurden? Laut dem Sanitäter sind es wohl eine Art KO-Tropfen. Aber du hast glücklicherweise nur eine winzige Menge zu dir genommen."

Jin blickte ihn überrascht an.

"Und da musste ich nicht ins Krankenhaus?", hakte er irritiert nach.

Namjoon wich seinem Blick aus.

"Der Arzt meinte, solange du unter Beobachtung von jemandem stehst, kannst du auch nach Hause."

Lächelnd registrierte Jin den unsicheren Unterton in der Stimme seines Gegenübers. Namjoon konnte es noch so sehr abstreiten, aber er schien sich wirklich Sorgen zu machen. Um ihn.

Nach und nach blitzten Erinnerungen an die letzetn Stunden auf.

Die dumme Party. Yun, die ihn zur Weißglut getrieben hatte. Das blutige Zimmer.

Und schließlich sein Zusammenbruch.

"Du hast mich getragen.", stellte Jin fest, als in seinem Kopf einzelne Sequenzen aufflammten. Und Worte.

Namjoon murrte: "leicht bist du nicht gerade. Aber ich musste dich ja irgendwie ins Auto bugsieren."

Wollte er witzig sein? Okay, ein bisschen schmunzeln musste er wirklich. Irgendwie mochte er es, wenn Namjoon sich in Ausreden windete und absichtlich unfreundlich wurde.

"Und warum hast du mir die Hose ausgezogen?", grinste Jin herausfordernd. Als sich vorhin seine Blase so langsam bemerkbar machte, hatte er festgestellt, dass er nur noch mit Boxershorts und Hemd bekleidet war.

Somit war klar, dass nur Namjoon ihn hatte ausziehen können.

Dieser räusperte sich: "Es sollte dich nichts einengen."

"Solange dir gefallen hat, was du gesehen hast.", Jin zog die Knie an, legte sein Kinn darauf ab und grinste breit, weil Namjoon bei seinem Kommentar mit den Augen rollte.

"Wenn es dir besser geht, kann ich dich ja dann nach Hause fahren.", meinte der Ermittler plötzlich ausweichend. "Ich muss eh nochmal ins Revier und den Ermittlungsstand überprüfen."

"Darf ich nicht mit?"

Kopfschüttelnd erhob Namjoon sich: "Die Sache in der Villa hat mir wieder aufgezeigt, dass es wohl besser wäre, wenn du dich aus dem Fall zurückziehst."

Jin klappte der Kiefer runter. War das sein Ernst?

Hatten sie das Thema nicht schon mal durchgekaut?

Wütend schnaubte derReporter.

Das war doch nur wieder eine Ausrede. Namjoon hatte gar nicht vorgehabt, die Zusammenarbeit mit ihm wieder aufzunehmen.

Er hätte es wissen müssen.

Jin schlug die Decke zur Seite, hob die Beine aus dem Bett.

"Was soll das denn jetzt werden?", erkundigte Namjoon sich mit genervter Stimme.

"Ich lasse dich in Ruhe. So wie du es gerne möchtest.", blaffte der Reporter ihn an, drängte sich an ihm vorbei.

"Du verstehst das falsch. Ich will nur nicht..."

"Dass ich dir auf die Nerven gehe, schon klar!", Jin sah sich hektisch im Raum um, auf der Suche nach der Wohnungstür.

Zumindest stand die Chance bei 50 Prozent, dass er nicht im Badezimmer landete.

"Jetzt halt endlich mal die Klappe!", herrschte Namjoon ihn so laut an, dass Jin geschockt zurückwich.

Artifice //Namjin//Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt