Kapitel 110

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Er würde sich nie daran gewöhnen können.

Diese Gier nach Sensation. Dieser Trieb, unbedingt alles sehen zu müssen und einen Blick auf das Grauen zu werfen.

Obwohl das Areal weiträumig abgesperrt war, mussten Polizeibeamte immer wieder einzelne Gaffer persönlich des Platzes verweisen, wenn diese sich durch irgendwelche Seitengassen unbemerkt in die blockierte Zone geschlichen hatten.

Das Blitzlichtgewitter blendete Jin so sehr, dass er die Augen erst zusammenkneifen und schließlich verdecken musste.

Wie ironisch, dass er plötzlich dachte, so müssen sich auch berühmte Stars fühlen. Hunderte fremder Leute, von denen man mit offenen Mündern regelrecht angegafft und fotografiert oder gefilmt wurde.

Er bewunderte Namjoon, dass dieser so ruhig bleiben konnte, einfach an den tuschelnden und sogar kreischenden Menschen vorbeilief, sie dabei keines Blickes würdigte.

Womöglich war er diese Art Aufruhr bereits gewöhnt.

Allerdings herrschte seit Bekanntwerden der ersten Todesopfer ein regelrechter Hype, besonders unter jungen Leuten. Die erste Trauer um ihre Idole wandelte sich irgendwann zusehends in eine richtige Manie.

Jeder wollte der erste sein, der ein Foto vom Tatort sein Eigen nennen konnte. 

Und seit dem Interview vor dem Krankenhaus häuften sich die Anfragen in Bezug auf Namjoon.

Nicht nur nach seinem beruflichen Werdegang wurde sich erkundigt. Jin hatte vor einigen Tagen sogar eine Internetseite entdeckt, die ausschließlich dem attraktiven Ermittler gewidmet war.

"Ausgerechnet an so einem Ort.", murmelte Jin, um sich wieder voll und ganz der Arbeit zu widmen.

Immer wieder blieb er stehen, blickte sich suchend um und fotografierte einzelne Stellen und Details, welche eventuell von Bedeutung sein könnten.

"Kameras?", fragte Namjoon knapp an Yun, die mit ihrem Tablet bewaffnet neben ihnen herlief.

"Nicht in diesem Bereich. Nur auf dem Hauptplatz weiter vorne und in der Eingangshalle des Towers.", gab sie zur Antwort.

Namjoon schnaubte: "War ja klar."

Wie damals bei dem Tatort mitten in der Innenstadt schien der Mörder sich auch hier im Vorfeld genauestens informiert zu haben, in welchen Bereichen er unerkannt agieren konnte.

Irgendwie sogar ein wenig bewundernswert, wie man in einer Stadt wie dieser, die nahezu komplett überwacht wird, dennoch unsichtbar wurde.

Jin sah sich weiter suchend um, warf einen Blick in die angrenzenden nun natürlich geschlossenen Imbisstände und kleinen Souvenirläden. Er wusste, dass hier eigentlich jeden Tag und besonders am Abend Trubel herrschte.

Neben den vielen Touristen war dieser Ort auch Anlaufpunkt für Pärchen oder normale Arbeiter, die sich nach Feierabend mit Kollegen auf ein Bier trafen.

Wie konnte niemandem von diesen vielen Menschen auffallen, dass hier ein Mord passiert war? 

"Gibt es noch einen anderen Zugang zu der Stelle, wo er gefunden wurde?", fragte Jin. Man hatte ihnen bereits beim Eintreffen mitgeteilt, dass es sich um ein junges männliches Opfer handelte.

Yun schüttelte den Kopf: "Zu unwegsam, es gibt nur Abhänge und Wald."

"Also hat er ihn irgendwie dorthin gelockt.", mutmaßte der Reporter.

"Oder gejagt.", warf Namjoon nachdenklich ein, was ihm überraschte Blicke seiner beiden Begleiter einhandelte und er daher auf ein umgestoßenes Fahrrad am Rand der engen Straße deutete.

Artifice //Namjin//Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt