Es war zum verrückt werden.
Mit beiden Händen fuhr Jin sich müde durch das Gesicht.
Vom künstlichen Licht des Computerbildschirmes brannten ihm mittlerweile schon die Augen und er hatte Mühe, sich zu konzentrieren.
Ein Blick auf die Sperroberfläche seines Smartphones verriet ihm, dass er bereits seit mehr als 30 Stunden auf den Beinen war. So langsamm forderte sein Körper Tribut.
Blöd nur, dass er dafür absolut keine Zeit hatte.
Jin legte müde den Kopf in den Nacken und starrte an die vergilbte Zimmerdecke mit dem riesigen Wasserfleck, der sich mit dunklen Umrissen deutlich vom Rest abhob.
Solange er bereits hier angestellt war, es müsste allmählich die Grenze von drei Jahren überschritten sein, war dieser Fleck da.
Wie bei einem Rorschachtest meinte jeder etwas anderes in dem ausgefranzten Muster zu erkennen.
Diesmal wirkte es für Jin wie ein Gesicht.
Eine Fratze, die ihn hämisch auslachte. Mit breitem Grinsen und stechendem Blick über ihn urteilte.
Er kniff die Augen zusammen, bis kleine blitzende Flecken vor seinen geschlossenen Lidern zu tanzen begannen.
Sicherlich war es lediglich der Müdigkeit geschuldet, dass er solche Fantasien erneut zuließ.
Kein Wunder nach dem heutigen Tag.
Seufzend richtete er sich auf und schob dabei den quietschenden Drehstuhl zur Seite.
Ein kleiner Sparziergang zum Getränkeautomaten würde ihm gut tun und auf andere Gedanken bringen.
Vielleicht welche, die weniger mit Gewalt, Blut und grinsenden Fratzen zu tun hatten.
Jin schlürfte durch die einsamen Gänge.
Tagsüber, zu den normalen Bürozeiten, herrschte hier ein heilloses Durcheinander. Personen, die aneinander vorbei stürmten und ein Stimmengewirr unterschiedlichster Gesprächsfetzen.
Jetzt hörte er nur den Nachhall seiner Schritte und seinen eigenen Atem.
Menschenleer, als wäre er der einzige Überlebende nach einer Apokalypse.
Schon wieder diese merkwürdigen Gedankengänge. Jin schüttelte über sich selbst den Kopf.
Er war Nachtarbeit gewöhnt, allerdings fand die früher draußen statt. In den Bars und Diskotheken Gangnams.
Nachdenklich starrte er auf das Angebot des Snackautomaten.
Die üblichen Schokoriegel und Fruchtgummis. Nichts, worauf er im Moment Appetit hatte.
Also würde es wohl beim Kaffee bleiben.
Noch so eine dumme Angewohnheit, seit er im Lokalbereich arbeitete.
Wo er sich früher immer einen Mokka mit Sojamilch und extra Sahne zu Gemüte geführt hatte, passte er sich nun dem Rest seines Kollegiums an und schüttete erbärmlich schmeckenden Filterkaffee in sich hinein.
Immerhin gönnte er sich einen extra Schuss Milch dazu, was allerdings nichts an dem muffigen Geruch und der äußerst besorgniserregenden Konsistenz des Getränks änderte.
Aber wenn es ihm dabei half, akzeptiert zu werden, war ihm auch dieses Mittel recht.
Zwar hatte das auffällige Beäugen und tuschelndem Gekicher hinter seinem Rücken mit der Zeit aufgehört. Richtig angekommen schien er jedoch noch immer nicht.
Sie hatten ihr Urteil gefällt: er war der überhebliche Klatschreporter mit den gebleichten Haaren und den Klamotten aus der Abteilung Haute Couture.
Was an sich ja eigentlich nichts Schlechtes war.
Nur eben eher im südkoreanischen Nachtleben und nicht in schummrigen Hinterhöfen, in denen sich die Mafia an möglichen Feinden ausgetobt hatte.
Dennoch wollte er nicht sein komplettes Wesen ändern.
Seine hellen Haare und die beiden Ringe in seinem linken Ohr waren die letzten Überreste aus seinem alten Leben.
Es kam einem Andenken gleich, einem Souvenir längst vergangener Zeit.
Davon wollte er sich nicht trennen. Zumindest nicht, um irgendwem zu imponieren oder zu überzeugen, wie seriös man doch war.
Müde lehnte Jin seine Stirn gegen das kühle Glas des Snackautomaten. Am liebsten würde er auf der Stelle einschlafen.
Vorhin war er tatsächlich einmal kurz weggenickt. Allerdings nur für wenige Minuten, nachdem ihm ein allzu bekanntes Gesicht in seinen Träumen erschienen war.
Noch immer hallte die Stimme des Polizisten in seinem Hinterkopf nach.
Auch er war nicht besser als alle Anderen mit seinen Vorurteilen, die nur seines Aussehens geschuldet waren.
Wahrscheinlich hatte Jin sich etwas vorgemacht, als er den mysteriösen Unbekannten für etwas Besonderes gehalten hatte.
Mit geschlossenen Augen hörte er auf sein regelmäßiges Atmen, das gleichbleibende elektrische Surren der Automaten und einem leisen Knacken.
Einem Knacken?
Jin öffnete abrupt die Augen.
Spielte ihm sein übermüdetes Hirn einen Streich?
Nein, da war es wieder. Wie ein kurzes Rütteln, wenn Metall aufeinander schabt.
Erschrocken hielt Jin die Luft an, versuchte sich nur auf das Geräusch zu konzentrieren, aber außer dem Rauschen seines eigenen Blutes hörte er nichts mehr.
Er war allein. Um diese Uhrzeit war niemand in diesen Räumen unterwegs, geschweige denn im gesamten Gebäudekomplex.
Somit würde ihn niemand hören. Keiner würde seine Schrei vernehmen.
Jin schüttelte schnaubend mit dem Kopf.
Hatte ihn das Schreiben von Berichten über Gewalttaten und Auftragsmorde bereits so paranoid werden lassen?
Sicher war nur irgendwo ein Fenster auf, gegen das der Regen klatschte.
Reporter waren vergesslich. Es verging kein Tag, an dem nicht irgendwo noch Licht brannte oder ein Rechner nicht runtergefahren war.
Mit durchgedrücktem Oberkörper setzte Jin sich in Bewegung und lief langsam auf den Haupteingang zu.
Der Gang gabelte sich noch einmal, weshalb man nicht sofort Einsicht auf die verglaste Fronttür hatte.
Und dort erblickte Jin ihn. Einen Schatten.
Wie angewurzelt blieb der junge Reporter an Ort und Stelle stehen.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte er den sich bewegenden Schatten an.
Das war diesmal keine Sinnestäuschung. Nicht nur, dass der Umriss menschlich wirkte und sich entsprechend bewegte. Dazu kam das kratzende klappernde Geräusch.
Ein Kratzen, welches entsteht, wenn man eine Metalltür aufdrückt. Mit Gewalt.
Jin rührte sich nicht.
Er hatte jegliche Kontrolle über seinen Körper verloren.
Alles, was er tun konnte, war den Schatten mit offenem Mund anzustarren.
Und dem immer näher kommenden Geräusch zu lauschen.
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Artifice //Namjin//
FanficEr, der junge Journalist, der zum ersten Mal mit der grausamen und blutigen Realität konfrontiert wird, trifft auf den ernsten Ermittler, der eigentlich lieber alleine arbeitet. Werden sie ihre gegenseitige Abneigung und die Streitereien auf Eis leg...