Schon die ganze Zeit über hatte er mit sich gerungen.
Mitlerweile war bereits wieder die Sonne hinter dem Horizont verschwunden und die Neonlichter der Stadt flackerten nach und nach auf.
Eigentlich hatte er vorgehabt, nicht mehr zu trinken. Und dennoch stand er jetzt hier, nahm immer wieder einen Schluck aus der inzwischen sechsten Flasche Soju und starrte auf die erleuchtete Stadt zu seinen Füßen.
Eigentlich war er der Meinung, er könnte es schaffen.
Er hatte es wirklich versucht. Und fast hätte es auch wirklich geklappt.
Wenn er ihm nicht begegnet wäre. Ihn gesehen hätte und ihm kurzzeitig nahe war.
Noch immer hatte er das Gefühl, sein Parfüm wahrnehmen zu können.
Beim Gedanken an die Begegnung zog sich seine Brust schmerzhaft zusammen. Wie lange sollte das eigentlich noch so weiter gehen?
Vielleicht würde er jetzt nicht hier stehen und darüber nachdenken, hätten sie es beide dabei belassen, keinen Kontakt mehr zu suchen.
Jin hatte sich doch gerade erst damit abgefunden. Es wäre so viel einfacher gewesen, hätte er nicht plötzlich Namjoons Nummer auf seinem Display gesehen.
War ihm nicht klar, wie dumm das war?
Wie konnte er erst alles beenden und dann im denkbar ungünstigsten Moment scheinbar seine Meinung ändern, nur um Stunden später erneut seine Rückrufe zu ignorieren?
Jin lehte seine Stirn gegen das kühle Glas der Fensterscheibe.
Er wurde einfach nicht schlau aus ihm.
Wie konnte dieser Mann so wankelmütig sein? Merkte er nicht, wie weh er ihm damit tat? Oder war das sogar seine Absicht?
Leise schmunzelnd schüttelte Jin den Kopf.
Er angelte sein Handy aus der Hosentasche. Ein letztes Mal wollte er es versuchen.
Auch wenn er wusste, dass dieser finale Versuch wahrscheinlich ebenfalls nicht von Erfolg gekrönt sein würde.
Dieses eine Mal noch konnte er dem Drang nicht wiederstehen. Danach würde er Namjoons Nummer endgültig löschen. Um gar nicht mehr in Versuchung kommen zu können.
Mit zitternden Fingern tippte er den letzten Namen in der Anrufliste an und wartete.
Das erste Klingeln ertönte.
Das zweite.
Das dritte.
Das vierte.
Ein leises Knacken war zu hören.
"Namjoon.", Jin hielt den Atem an.
"Was willst du?", kam die seufzende Frage, die wie ein Stich mitten in die Brust des Reporters eindrang.
"Es tut mir so unendlich leid.", flüsterte Jin mit belegter Stimme.
Namjoon zögerte: "Bist du betrunken?"
Er nickte, obwohl der Angerufene das eigentlich gar nicht sehen konnte: "Ja. Ziemlich."
"Und du glaubst, das hilft?", fragte der Ermittler zynisch.
Jin lachte leise auf: "Es tut weniger weh."
Sekundenlang sagte keiner der beiden etwas. Es herrschte eine beunruhigende Stille.
"Bist du noch da?", erkundigte der Blonde sich schließlich, fast schon ein wenig ängstlich.
"Ja.", kam nach einigen Sekunden die erlösende Antwort.
"Es war dumm von mir, die Akte mitzunehmen.", begann Jin schließlich. Sein Blick lag noch immer auf einem blinkenden Werbeschild in der Ferne auf irgendeinem Hochhaus. "Ich weiß selber nicht, warum ich das eigentlich gemacht habe. Vielleicht wollte ich so mehr über dich erfahren."
"Warum hast du nicht gefragt?", erkundigte Namjoon sich. Seine Stimme klang vollkommen ruhig. Ganz im Gegensatz zu der von Jin.
Unabhängig vom Alkohol versuchte er die ganze Zeit, das Zittern in seiner Kehle zu unterdrücken.
"Wahrscheinlich hatte ich Angst.", gab er zu.
"Vor mir?"
Jin schüttelte den Kopf: "Nein. Davor, dass du dich mir verschließt. Dass du mir nichts sagst."
Erneut seufzte Namjoon: "Vertraust du mir nicht?"
"Mehr als alles andere.", kam die schnelle Antwort. "Vielleicht ist genau das das Problem."
Erneut herrschte Stille.
Diesmal jedoch machte ihm das keine Sorgen. Er wusste, dass Namjoon noch immer auf der anderen Seite war.
"Ich hab sie nicht gelesen. Die Akte, meine ich.", offenbarte Jin.
"Warum nicht?"
Der Reporter lächelte: "Weil sie dir gehört. Ich werden sie Yun wiedergeben. Sie kann sie dann an dich weiterreichen. Du musst mich nicht mehr sehen."
"In Ordnung.", meinte der Ermittler knapp.
"Namjoon?", kam nach einigen Sekunden die Frage.
"Was noch?"
Jin zwang sich zu einem Lächeln, obwohl ihm eigentlich zum Heulen zumute war: "Ich liebe dich. Schon lange.", gestand er. Endlich.
Auch wenn es zu spät dafür war.
"Ich weiß. Leg dich schlafen.", entgegnete Namjoon, bevor ein leises Klicken ertönte. Er hatte aufgelegt.
Endlich musste Jin nicht mehr stark sein. Endlich konnte er weinen.
DU LIEST GERADE
Artifice //Namjin//
FanficEr, der junge Journalist, der zum ersten Mal mit der grausamen und blutigen Realität konfrontiert wird, trifft auf den ernsten Ermittler, der eigentlich lieber alleine arbeitet. Werden sie ihre gegenseitige Abneigung und die Streitereien auf Eis leg...