79|Erleichterung

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Meine Bahn kam langsam und ich legte ihren Karton auf einem der Sitzmöglichkeiten ab. Sie verabschiedete sich mit einer festen Umarmung, die ich verwundert erwiderte.
Sobald ich meine Kopfhörer eingesteckt und einen Platz am Fenster ergattert hatte erschienen wieder rotlackierte Fingernägel vor meinem geistigen Auge.

~

Egal wie sehr ich mich sträubte es klappte nicht. Diese scharfen Nägel legten sich immer wieder auf Kenans Schulter und ihr gezwungenes Lächeln erschien in jedem und jedem Traum.
Das führte ich die ganze Nacht lang so fort bis mein Wecker klingelte und mich aus dieser Horrornacht zerrte.
Selbst während der Dusche konnte ich es nicht aus dem Kopf schlagen. Wieso hatte Kenan mir denn nicht gesagt worüber sie gesprochen hatten? Bestimmt war es letztlich doch nur zum Studium und ich interpretierte nun viel zu viel hinein.

Das wollte ich nicht. Ich wollte keine Freundin werden, die ihren Freund genauestens beobachtete und alles wissen möchte. Ich brauchte nicht alles in seinem Leben wissen. Wenn er es für nötig hielt mir davon zu berichten, dann würde es mich natürlich freuen und ich würde zuhören, aber wenn er anderer Meinung war, dann musste ich das akzeptieren. Wir waren kein Ehepaar oder siamesische Zwillinge.

In der Universität herrschte die übliche angespannte Stimmung wie die letzten Tage schon. Nervös war ich natürlich auch, doch bei mir war es kaum wie bei Lewis, der jedes Mal fast ohnmächtig wurde, wenn ich ihm meine Notizen zeigte.
Ella beobachtete es schweigsam und warf ab und zu noch etwas ein, was Lewis vollkommen um den Verstand brach.

„Ich.. Ich gehe rauchen.", gab er verzweifelt von sich und schnappte sich seine Jacke, die über dem Stuhl hing,„Und vielleicht meinen Kopf gegen den Boden schlagen." Ohne weiteres fing er einfach und ich sah über den Tisch zu Ella, die an ihren Saftpäckchen saugte. Wir hatten gar nicht mehr über ihren Vater gesprochen. Sollte ich es denn ansprechen? Es interessierte mich, vor allem ihr Wohlbefinden, aber vielleicht wollte sie gar nicht darüber sprechen.
Wäre ich eine schlechte Freundin, wenn ich sie an das Arschloch von Vater erinnerte?

„Du siehst irgendwie gequält aus.", platzte sie mitten in meine Gedanken, dass ich in ihre Rehaugen sah,„Ist was?" Daran kam ich nicht vorbei. Wenn es sie verletzte, dann konnte ich sie trösten. Was war das denn für ein Gedanke?

„Äh ich wollte fragen, ob du noch was von.. ihm gehört hast.", fragte ich vorsichtig. Sie legte ihr Saftpäckchen auf den Tisch und seufzte.

„Zum Glück nicht. Meine Mutter hat ihn kontaktiert.", erzählte sie mit Blick auf ihre Finger, die am Strohhalm spielten,„Ich war nicht da, aber Koray und er meinte er wäre stolz auf sie. Er hat neue Beschimpfungen gelernt und mir versichert, dass er nicht wieder so schnell auftaucht." Ich legte den Kopf schief und suchte Augenkontakt, was ganz schön schwer war, da sie den Blick senkte.

„Willst du das denn?", fragte ich. Jetzt sah sie zu mir auf. Ihre großen Augen spielten Ehrlichkeit wieder und für einen Bruchteil einer Sekunde hätte ich sie gerne wie ein kleines Kind auf den Arm genommen und ihr gesagt, dass alles gut werden würde.
Sie sahen zerbrechlich aus, dabei wurde mir erst jetzt klar, wie stark Ella doch war.
Sie war noch immer so ein lieber Mensch, der niemandem etwas schlechtes wünschte, obwohl ihr Leid zugefügt wurde während sie nichts getan hatte.

„Ich weiß nicht. Mein Vater war immer.. wie ein Freund. Während ich zu meiner Mutter aufsah alberte er mit mir rum, als wäre er selbst noch ein Kind. Er war nie bei der Sache und das liebte und hasste ich gleichzeitig an ihm. Ich denke immer daran, wie ich wohl wäre, wenn er nur etwas ernster an Sachen rangegangen wäre. Wenn ihm bewusst gewesen wäre, welche Verantwortung er eigentlich zu tragen hatte. Ist das falsch? Also, dass ich meinen Vater hasse?", redete sie ruhig und seufzte. Ich lächelte schwach.

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