Kapitel 107

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Die Zehrung war schrecklich. Überall waren Menschen, die mich bedrängten, wollten mit mir reden, doch mein Blick ging nach wie vor ins Leere und ich versuchte die Welt zu ignorieren.

Die Halle, in der wir aßen, war schwarz behangen und hätte man es nicht an der Deko ausmachen können, hätte kein Außenstehender gewusst, dass noch vor einer Stunde jemand beerdigt worden war. Niemand schien sich darum zu kümmern, dass gerade ein geliebter Mensch verabschiedet worden war.

Ich also starrte auf meinen vollen Teller mit Salat und wünschte mir, ich wäre einfach zu Hause. Diese Menschen, die doch alle nur hier waren, um sich den Magen voll zu stopfen ohne sich um Julia zu kümmern nannte ich Heuchler. Hatten sie sie schon vergessen?

Ohne Palle fühlte ich mich hier so verloren, das konnte man nicht glauben. Er war natürlich, als kein angeheiratetes Mitglied der näheren Familie, nicht zum Leichenschmaus eingeladen worden. Auch, wenn ich meine Mutter förmlich angebettelt hatte, meinte sie darauf hin nur, dass es doch eine ideale Möglichkeit für mich wäre, mich mit der Familie über Julia auszutauschen, ihre Erfahrungen zu hören und ihnen meine Trauer anzuvertrauen.
Ich hatte mir so sehr verdrücken müssen, ihr den Vogel zu zeigen und eine zynische Bemerkung abzulassen. Wer glaubte sie war ich? Als ob ich einfach irgendeinem Onkel erzählen würde, was mich beschäftigte. Das tat ich nur bei meinen engsten Freunden, seit ich von zu Hause ausgezogen war. Bei meinen engsten Freunden, also eigentlich nur Palle und eben Julia. Manchmal zog ich auch Tobi ins Vertrauen, weil der mir von meinen Brüdern, zumindest psychisch am nächsten stand.

Mein Blick wanderte schräg über den Tisch zu ihnen und meine Augen verengten sich. Tobis Verlobte Sabrina saß natürlich neben ihm. Natürlich, weil sie eine Frau war, weil meine Mutter sie mochte und die beiden wahrscheinlich nicht mehr lange mit ihrer Hochzeit warten wollen. Und das, obwohl ich mir sicher war, dass diese dumme Kuh nicht ein Wort mit Julia gewechselt hatte. Im Gegensatz zu allen anderen hatte sie auch keine Tränenspuren auf ihrem perfekten Make Up und auch ihre Augen schienen nicht gerötet. Ich daneben musste wohl aussehen wie der Tod oder wahlweise auch der Teufel höchstpersönlich.

Der Geruch des Dressings stieg zu mir auf und überlegte, ob ich einen Gabel voll essen sollte. Palle hätte wahrscheinlich sofort zugeschlagen. Der kleine Vielfraß... Ich musste lächeln, als ich an die vielen Situationen dachte, in denen wir uns spaßeshalber über seine Essgewohnheiten gestritten hatten und ich ihn aufgezogen hatte. Man, warum war er nicht hier, ich konnte jetzt etwas Aufheiterung gebrauchen.. Am liebsten würde ich einfach rausrennen und ihn suchen gehen. Wir hatten ausgemacht, dass wir uns an einem Brunnen in der Nähe den Bahnhofs trafen. Aber so, wie ich unsere Team #Orienierungslos kannte, würden wir uns nie wieder finden.

Immer noch wenig begeistert griff ich nach meiner Gabel und rührte lustlos den Salat ein bisschen um. Ich hatte das Gefühl, dass alle Menschen im Umkreis von drei Metern mich anschauten und verlangen, dass ich einen Bissen nahm. Ich seufzte ergeben und aß ein bisschen.

Zu meinem Missfallen musste ich zugeben, dass es nicht schlecht schmeckte und ich wirklich Hunger hatte. Doch kaum war die halbe Portion in meinem Magen, konnte ich nicht mehr. Mein Magen rebellierte und ich hätte das Gefühl kotzen zu müssen.

Der Effekt verstärkte sich, als ich von meiner Nachbarin an dem Tisch angequatscht wurde. Da ich nicht auf Gespräche aus war, hatte ich sie bis jetzt erfolgreich ignoriert, doch als sie mit dem typischen fürsorglichen Ton fragte, wie es mir denn ginge, musste ich mir mit aller Kraft wieder eine zynische Bemerkung verkneifen. Wie würde es mir wohl gehen, ha? Natürlich: blendend, was für eine Frage!.. Halleluja, was dachten die Leute sich bitte? Dass ich in Jubelschreie ausbreche, weil meine Schwester gestorben war?

So gefasst wie möglich beantwortete ich ihre anderen Fragen auch mehr oder weniger Wahrheitsgetreu. Dann aber kam die Frage, die das Fass zum Überlaufen brachte: "War das dein Freund, den du mitgebracht hast?" Da ich gerade überhaupt keine Lust und vor allem nicht die Nerven gehabt hatte, um jetzt eine Grundsatzdiskussion anzufangen, was denn nur kirchlich korrekt sei, stand ich mit der Ausrede auf, mir wäre schlecht, was nicht einmal gelogen war und verdückte mich nach draußen. Vor dem Gasthaus setze ich mich auf eine kleine Bank und zog mein Handy aus der Tasche. Schnell öffnete ich den Chat mit Palle. "Wo bist du?" Schrieb ich ihm, "ich halte das keine Minute mehr aus" schnell auf den grünen Pfeil gedrückt und zugesehen, wie die Haken erschienen, stand ich auf und lief ein paar Meter.

Wenige Minuten später erfuhr ich durch seine Antwort das, was ich vorhin schon befürchtet hatte. Er wusste nicht, wo er war.
"Kannst du zur Kirche zurückkommen?" Fragte ich nach, "findest du das?" "Das eher, als dass ich den Bahnhof finde" "Okay, wir treffen uns dort, dann fahren wir zurück" er las es und bestätigte mit einem "okay", dass es für ihn klar ging. Wieder eine so wunderbare Eigenschaft von ihm. Er hatte einfach eingewilligt, ohne nachzufragen. Einfach ohne, dass er mich mit Fragen bombadierte, kam er und wollte für mich da sein.

Ich wusste, es war nicht all zu weit mit dem Bus vom Hauptbahnhof hierher, weswegen ich ihm schon entgegen kommen wollte.
Als ich ihn dann sah, wie er den langen, leicht steilen Weg hinaufging, rannte ich ihm entgegen.

Ganz filmlike (neues Wort?) trafen wir uns in der Mitte und ich fiel ihm in die Arme. Er hatte damit wohl weniger gerechnet, denn er taumelte unter meinem Gewicht nach hinten. "Wow, Manu.. wir haben uns vor einer dreiviertel Stunde das letzte Mal gesehen, was ist denn los?" Ich hatte ihn immer noch nicht losgelassen und murmelte in seine Schulter, nachdem wir wieder festen Stand hatten: "Es war so schrecklich da drinnen, Palette.." Tröstend strich er mir über den Hinterkopf und obwohl ich es für gewöhnlich hasste, wenn jemand meine Haare anfasste, ließ ich es zu und genoss es.

"Weißt du was?" Wir standen wieder am Grab und blickten auf die aufgeschüttet noch frische Erde. Einige Blumentöpfe standen daneben und die Planzen warteten darauf, eingepflanzt zu werden. Mir war vorhin gar nicht aufgefallen, wie schön das hier war. Viele, viele Blumenkränze mit kleinen Wünschen oder Grüßen auf Samt lagen um die Stelle. Julias Bild stand noch auf dem Grabstein, auf dem schon die Namen meiner Großeltern und meiner verstorbenen Tante waren. Von meiner Mutter wusste ich, dass bald jemand käme, der den Stein abhole und ihren Namen eingravieren ließe. (Stolz, Frau Deutschlehrerin? Der Konjunktiv stirbt durch mich nicht aus!)

"Nein, aber was weißt du?", erwiderte ich. Er schaute mich kurz belustigt an, dann senkten sich seine Mundwinkel wieder. "Wir haben sie nie gefragt, weshalb sie die Autogrammkarten gebraucht hatte" "Stimmt" Nachdenklich schaute ich auf ihr Bild. Es gab so vieles, was ich sie noch fragen wollte. Jetzt hatte ich die Möglichkeit nicht mehr. "Sie hätte sich wirklich gefreut, weißt du?", unterbrach ich die Stille. "Worüber?" "Na, dass wir zusammen sind. Sie hat uns richtig geshippt, auch, als wir uns noch nicht in Echt kannten." Verwundert und überrascht zog er die Augenbrauen hoch. "Wirklich?" Ich brummte zustimmend. Wir schwiegen wieder. Irgendwann nahm er meine Hand und streichelte sie sanft.
"Ich bin froh, dass du da bist, weißt du das?" Ich sah die Freude in seinen Augen glitzern, als er die Worte hörte. "Ich auch, Manu. Wenn du wüsstest, wie sehr.." Auch ich musste lächeln. Ich zog ihn an seiner Hand näher zu mir und küsste ihn sanft.


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W.T.F.
Danke für das Ranking 😱 das ist so unfassbar krass.. 





Endlos Telenovela...(#kürbistumor)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt