Kapitel 19

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Bei dem Aufschrei hatte Genia sonst was erwartet. Glücklicherweise handelte es sich aber nur um eine kleine Schnittwunde am Zeigefinger der Kleinen. Klar hatte es ordentlich geblutet, aber die Blutung war leicht zu stoppen gewesen und jetzt strahlte das Geburtstagskind schon wieder und hielt den Mullverband, den Genia ihr gezaubert hatte stolz hoch. „Schischi!" Das kleine Essiggürkchen kam angestürzt wie eine wilde Henne und schob Genia beiseite. „Schischi, es tut mir so leid. Das ist alles meine Schuld. Wir fahren jetzt sofort ins Krankenhaus." „Das ist nicht nötig. Ich habe sie schon verbunden. Es ist nur ein kleiner Schnitt." Ina drehte sich zu ihr um und fixierte sie mit zusammengekniffenen Augen. „Und dieses Urteil beruht auf welcher Expertise? Ich kann mich nicht erinnern jemals etwas von einem Medizinstudium deinerseits gehört zu haben." Wie bitte? Wollte Ina sie gerade echt schräg anmachen? Na dann sollte sie aber auch das Echo vertragen können. „Nee, ich habe kein Medizinstudium absolviert, aber immerhin einen anderen Studienabschluss, was ja nicht jeder von uns beiden behaupten kann." Okay, das war etwas unter der Gürtellinie, schließlich wusste sie von Luca, dass Ina ihr Studium nur wegen des Zusammenbruchs ihres Vaters abgebrochen hatte, aber dann hätte sie sie halt nicht so reizen sollen. Irgendwann reichte es ja auch mal. Ina schnaubte nur pikiert. Was bildete sich diese Person ein, ihr das vor den ganzen Leuten hier an den Kopf zu werfen. Es ging doch hier nicht um einen Studienabschluss, sondern darum, dass ihre Schwester gut versorgt war. „Nichts für ungut, aber ich fahre trotzdem jetzt mit Natascha ins Krankenhaus. Nicht dass sie genäht werden muss oder sich etwas entzündet." „Manno nein. Das ist mein Geburtstag und ich will jetzt feiern." Natascha schaute sie sauer an und stampfte mit ihrem Fuß auf. „Du hast da aber eine Verletzung und die muss....." „Die habe ich ordnungsgemäß verbunden. Lass das Mädel doch jetzt ihren Geburtstag feiern." Was mischte sich denn dieses Weib schon wieder ein? Sie war für Natascha verantwortlich und nicht Genia. Aber es passte zu ihr, dass sie das Vergnügen über die Sicherheit stellte. „Und das ordnungsgemäß begründest du womit?" „Mit meinem Erste-Hilfe-Kurs für Kinder, den ich jährlich absolviere seit ich ein Kind habe", kam es in einem so ruhigen Ton zurück, dass es Ina noch mehr wurmte. Natürlich nahm sie auch den ganz offensichtlichen Vorwurf in diesem Satz wahr und sie ärgerte sich, dass sie selbst noch keinen solchen Kurs gemacht hatte. Das würde sie aber gleich in der nächsten Woche nachholen. Nein, so etwas würde sie nie wieder so unvorbereitet treffen. „Geht es dir denn wieder besser?" Ihr geheucheltes Mitleid konnte sich Genia sparen. Sie wollte ihr doch nur noch einmal mehr klar machen, dass sie völlig versagt hatte. Ja, anstatt ihre Schwester erstzuversorgen war sie einfach in Ohnmacht gefallen. Ina spürte eine leichte Wärme in ihrem Gesicht. Das war so peinlich. „Na wenigstens hat die Deern wieder ein bisschen Farbe im Gesicht. Die lütte Deern hat aber wirklich nur einen kleinen Schnitt. Der ist weg bis sie heiratet. Da hatte ich schon ganz andere Verletzungen auf der Baustelle und bin auch ohne Doktor ausgekommen." Linus Vater tätschelte ihre Schulter mit seiner großen Hand. Irgendwie beruhigte sie das. Wenn er sagte, dass mit Natascha alles in Ordnung war, dann glaubte sie ihm das auch.„Was ist denn überhaupt passiert?" Linus schaute zwischen ihr und ihrer Schwester hin und her. „Ina hat mir in den Finger geschnitten." Nataschas finsterer Blick war auf sie gerichtet, genau wie der eingebundene Finger, der vorwurfsvoll auf sie zeigte. „Ich habe dir nur das Messer reichen wollen. Du solltest eigentlich schon wissen, dass man ein Messer nicht an der Klinge anfasst." Klar war sich Ina im Klaren, dass es auch ihre Schuld war. Sie hätte Natascha das Messer niemals so reichen dürfen, aber......nichts aber. Ihre Schwester war ein Teenie und sie war die Verantwortliche. Sie war hier die Erwachsene und die Schuldige. „Sorry, Schischi. Ich hätte mehr aufpassen müssen." Ina machte einen Schritt auf ihre Schwester zu und zog sie an sich.  Mit ihren Lippen drückte sie einen Kuss auf das Haar ihrer Schwester. Nein, sie wollte sich gar nicht vorstellen, dass sie ihre Schwester wirklich ernsthaft verletzt hätte. Das hätte sie sich niemals verzeihen können. „Ist ja gut." Natascha schob sie von sich. „Das ist gerade total peinlich", brummte ihre Schwester leise vor sich hin. „Können wir jetzt endlich den Kuchen anschneiden? Sonst ist er ja bald vergammelt." Eigentlich lag Ina eine Antwort auf diese unpassende Bemerkung ihrer Schwester auf den Lippen. Sie hielt sie aber zurück, denn immerhin hatte die Geburtstagsfeier wegen ihrer Dummheit schon genug gelitten. Da musste sie nicht noch eine weitere Diskussion vom Zaun brechen. Jedenfalls nicht heute. Heute sollte Natascha feiern. „Na Pepincito, alles wieder okay oder fühlst du dich noch schwach?" Linus hatte seinen Arm um ihre Taille gelegt. „Alles gut", antwortete sie nur kurzangebunden. Sie spürte wie leichter Zorn in ihr aufstieg. Wollte Linus ihr jetzt auch auf die Nase binden, dass sie wegen ein paarTropfen Blut einfach umgekippt war, anstatt ihre Schwester zu verarzten? Das hätte sie eigentlich nicht von ihm erwartet. Der Blick in sein Gesicht, sorgte erneut für ein schlechtes Gewissen. Nein, er sah absolut nicht aus, als wollte er ihr Vorwürfe machen. Er sah eher mitgenommen und blass aus. So als würde er selbst gleich ohnmächtig. „Lass uns kurz hinsetzen", schlug sie deshalb vor und zog ihn mit sich zum Sofa. Nein, der Geburtstag ihrer Schwester brauchte wirklich nicht noch mehr Aufregung.

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt