Kapitel 112

187 39 12
                                    


Ina saß stocksteif auf dem Stuhl im Esszimmer und starrte auf den Zettel, der dort auf dem Tisch lag.
Ich kann das nicht mehr! Ich muss hier raus! Ich melde mich, Linus
Das war alles, was dort in unordentlicher Handschrift schnell hingekliert worden war. Dass es sich um Linus seine Handschrift handelte, war unbestritten. Das hieß dann wohl, dass Inas Gedanke einer Entführung lächerlich gewesen war. Ja, lächerlich! Linus war nicht eine Sekunde in Gefahr gewesen. Nein, er hatte einfach keine Lust mehr auf sie. Das war alles. Ina spürte, wie ihre vorherige Angst einer gewissen Wut wich.
„Linus haut doch nicht einfach so ab. So haben wir ihn nicht erzogen." Astrid schüttelte entschieden den Kopf. „Da muss schon ein bisschen mehr als nur ein Streit vorgefallen sein." Ihr Blick wanderte zu Ina und wirkte ziemlich forschend, ja geradezu einschüchternd. „Mensch Astrid, jetzt lass doch die Lütte in Frieden. Wenn da noch etwas wäre, würde sie es uns erzählen. Nicht wahr, Ina?" Was sollte sie da sagen? Also nickte sie nur. Wieso sollte sie hier überhaupt die Schuldige sein, die etwas verschwieg? Sie hatte sich nicht einfach aus dem Staub gemacht. „Man Thomas, ich meine das doch gar nicht auf die Beziehung bezogen, sondern auf die Firma. Du weißt doch wie Linus seit damals auf Stress reagiert." Seit damals? Sollte das heißen seit dem ersten Infarkt ihres Vaters? Linus Vater nickte. „Stimmt. Gab es denn da noch etwas in der Firma? Also außer, dass du die ganzen Handwerker von der Baustelle abgezogen hast?" „Nee, also da fällt mir nichts ein." Ina schüttelte den Kopf. „Also nur gestern, da gab es einen Unfall mit einem der Bauleiter, mit dem Linus eine Baustelle besichtigt hat." „War er schlimm?" Astrid war auch wirklich immer gleich um jeden besorgt. „Nicht wirklich. Er hat zwar einen Stein an den Kopf bekommen, aber..." Ina zuckte mit den Schultern. „...war wohl nur eine Platzwunde, die im Krankenhaus genäht werden musste und eine leichte Gehirnerschütterung." „Wie kann denn so etwas überhaupt passieren? Muss man nicht auf so einer Baustelle mit einem Helm herumlaufen?" Wieso warf Astrid Thomas denn so einen komischen Blick zu? Vielleicht, weil er wie manche Handwerker der Meinung war, auf einen Helm verzichten zu können? Ja, das war es wahrscheinlich. Bestimmt hatte sie ihm schon den ein oder anderen Vortrag gehalten, wie gefährlich so etwas war. „Natürlich muss man das. Und nicht ohne Grund, wie man sieht", polterte Thomas los. Okay, dann lag Ina mit ihrer Theorie wohl falsch. „Was ist das bitte für ein Bauleiter? Der muss doch als Vorbild vorangehen." „Und Linus war bei dem Unfall dabei?" Wieder zuckte Ina mit den Schultern „Keine Ahnung." In ihrem Kopf tauchte das weiße Hemd von Linus wieder auf, das sie weggeräumt hatte. „Aber wahrscheinlich. Auf seinem Hemd war ein kleiner Blutfleck." Da war er wieder. Dieser komische Blick, den Astrid ihrem Mann zuwarf. Was hatte der bitte zu bedeuten? Inas Blick fiel zu der Wanduhr. Heiliger Mörtel, wie lange hatte sie hier schon gesessen. Sie schob ihren Stuhl ruckartig zurück und sprang auf. „Ich muss los." Ja, ausgerechnet heute konnte sie sich keine Verspätung leisten. Sie würde jetzt sofort nach Witten fahren und persönlich kontrollieren, dass die Arbeit dort wieder richtig angelaufen war.  „Wo willst du denn hin? Du hast doch noch gar nicht gefrühstückt." Astrids besorgter Blick ruhte auf ihr. „Na auf die Baustelle und dann in die Firma. Zu Essen hole ich mir später unterwegs etwas." Wäre ja nicht das erste Mal. „Warte, ich begleite dich. Vielleicht kannst du ja etwas fachmännische Unterstützung brauchen." Thomas war auch aufgestanden. „Dann zieht euch schon mal um. Ich mache euch in der Zeit ein paar Brote fertig." Astrid befand sich schon auf dem Weg in die Küche. Umziehen? Ina schaute an sich hinunter. Ja, Astrid hatte recht. Mit dem zerknitterten Hosenanzug konnte sie sich vielleicht auf einer Baustelle, nicht aber in der Firma blicken lassen. Das kam halt davon, wenn man in den Klamotten schlief......

„Und schöne Grüße an den Herrn Hansen Junior. Hoffentlich geht es ihm bald wieder besser. Gestern sah er schon ziemlich groggy aus, als er von der Baustelle abgehauen ist.  Er hat ja jetzt die Feiertage, um sich zu erholen", verabschiedete sich der Polier von Ina und Thomas. Ina zog ihren Helm vom Kopf und legte ihn in den Kofferraum. Linus Vater folgte ihrem Beispiel. Und griff nach dem Baumwollbeutel, den Astrid ihnen an der Tür noch in die Hand gedrückt hatte. „Also hier sollte es keine Probleme mehr geben. Das wird bis morgen Abend alles so weit fertig wie das mit dem Bauherrn abgesprochen ist. Da musst du dir keine Sorgen mehr machen. Deine Leute sind wirklich gut." Das freute Ina zu hören und ließ sie gleichzeitig auch etwas aufatmen. Ihr hat es wirklich geholfen, wie Thomas mit den Leuten gesprochen hatte. Irgendwie schienen sie ihn mehr zu respektieren als sie, weil er selbst vom Fach war. Obwohl nein, das stimmte so nicht. Man respektierte sie schon, weil ihr die Firma gehörte, aber Thomas hatte man ernst genommen und sich mit ihm auf Augenhöhe unterhalten. Das war etwas ganz anderes. „Hier trink erst einmal einen Kaffee und iss ein Brot." Thomas reichte ihr einen dampfenden Plastikbecher, in den er gerade Kaffee aus der Thermoskanne eingefüllt hatte, und eine in Alufolie gewickelte geklappte Brotscheibe, aus der Käse und Salami hervorblitzten. So hatte Ina noch nie gefrühstückt. Normalerweise hätte sie jetzt bei irgendeinem Bäcker angehalten und sich einen Kaffee to go und ein belegtes Brötchen geholt....oder sie hätte eine von den Bürodamen in der Firma losgeschickt, um ihr etwas zu holen. Schließlich war sie ja die Chefin und alles hatte für sie zu springen. Jedenfalls hatte ihr Vater ihr das immer so vermittelte. Aber wenn sie ehrlich war, gefiel ihr dieser Ansatz nicht mehr. „So, und wo müssen wir jetzt hin? Ist da noch eine Baustelle?" Thomas schaute sie voller Tatendrang an, kaum dass er sein Brot verspeist hatte. Ina schüttelte den Kopf. „Nein, alle Leute sind ja jetzt hier." „Schade, die Baustellenluft hat mal wieder richtig gutgetan." „Wie meinst du das?" Thomas arbeitete doch auf dem Bau als Polier. Was hieß da also mal wieder? „Bist du immer noch auf Kurzarbeit?" Thomas winkte ab. „Lassen wir das Thema. Es gibt bestimmt wichtigeres zu tun." Ja, in der Firma stapelte sich genug auf ihrem und Linus Schreibtisch. Vielleicht konnte sie ja so einiges mit Thomas Hilfe abarbeiten. Ohne zu überlegen, umarmte sie Linus Vater. „Danke, dass du mir hilfst."

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt