Kapitel 77

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Genia griff in einen weiteren Karton. Bis jetzt hatten sie noch nicht das gefunden, was sie eigentlich suchten. Und trotzdem hatte sie das Gefühl sich in einer Schatzkammer zu befinden. Ständig fand sie etwas, was zu Inas Kindheit gehörte. Ihre Adoptivmutter hatte wirklich alles aufgehoben. Auch wenn sie gerade ziemlich sauer auf Constantin war, musste sie ihm eigentlich dankbar sein, dass er die Sachen seiner verstorbenen Frau nur auf den Dachboden verbannt und nicht gleich entsorgt hatte. „Das ist ja ein Tutu. Hast du mal Ballett getanzt?" Ina nickte „Ich habe es zumindest ziemlich erfolglos versucht. Ich war einfach nicht graziös genug. Die Ballettlehrerin hat  meiner Mama dann irgendwann erklärt, dass das mit mir keinen Erfolg versprach." Sie zuckte mit den Schultern. „Mama hat mich dann zum Turnen geschickt. Das war schon erfolgreicher. Ich habe sogar mal eine Medaille und einen Pokal gewonnen. Die sind bestimmt auch hier irgendwo." Inas Blick wanderte über die Kartons, die noch alle auf dem Boden standen. „Wieso hast du den Pokal und die Medaille nicht?" Genia war verwundert. Die meisten Kinder stellten sich so etwas doch stolz auf ein Regal in ihrem Zimmer. Ina zuckte mit den Schultern. „Papa wollte das nicht. Er war der Meinung, wenn man so etwas ständig vor Augen hat, dann ruht man sich nur auf dem Erfolg aus und strengt sich nicht mehr so an." Genia musste ein Knurren unterdrücken. Dieser Schwachsinn hätte auch von ihrer Mutter kommen können. Sie hörte förmlich ihre Stimme „Nur wer ausgehungert ist, kämpft auch."  Ja, das war ihr liebster Satz und Genia hatte ihn gehasst. Wenn sie das alles so hörte, war es fast, als hätte ihre Mutter Constantin nicht nur Geld in die Tasche geschoben, sondern auch ihm gleich noch ihre kruden Erziehungsleitsätze mitgegeben. In Genia kochte eine ungeahnte Wut gegen diese Frau hoch. Sie hatte nicht nur ihr Leben zur Hölle gemacht, sondern hatte das Kind auch noch einem geldgeilen, egomanischen Arschloch auf's Auge gedrückt. Sie konnte wirklich nur dankbar sein, dass ihre Tochter in ihrer Adoptivmutter wenigstens einen normaldenkenden und normalfühlenden Menschen um sich gehabt hatte. Aber so langsam wurde ihr auch klar, was der Tod dieser Frau für das Leben von Ina bedeutet hatte. Sie musste plötzlich erwachsen werden und sogar die Verantwortung für ihre kleine Schwester übernehmen und im Gegenzug hatte sie keinerlei emotionalen Rückhalt von ihrem Vater. Kein Wunder, dass sie sie anfänglich für eine eiskalte Prinzessin oder Essiggurke gehalten hatte. Wer wusste besser als Genia wie schwer es war, sich in der Nähe eines gefühlskalten Menschen normal zu entwickeln. Und das Constantin sich nicht gerade zu seinem Vorteil entwickelt hatte, stand wohl außer Frage. Schon alleine sein damaliger Umgang mit ihr, als sie ihm die Schwangerschaft gebeichtet hatte, sprach Bände. „Hast du denn noch mehr Sportarten ausprobiert?" Ina schüttelte den Kopf. „Nein, Papa hielt das für Zeitverschwendung." Sie zuckte mit den Schultern. „Und nachdem Mama tot war, hatte ich ja sowieso keine Zeit mehr." „Aber du hattest doch bestimmt Freundinnen, mit denen du was unternommen hast?" Ina schüttelte den Kopf. „Nein, ich musste mich ja um Schischi kümmern und Mamas Aufgaben in der Firma übernehmen." Wie bitte? „Du musstest was?" Genia fiel es schwer ihr Missfallen zu unterdrücken. Ina fuhr sich verlegen mit ihrer Zunge über die Lippen. „Das hört sich jetzt so viel an. Ich musste aber Papa nur zu Geschäftsessen begleiten." Hallo, was ging da bitte bei Constantin im Kopf ab? Ina war fünfzehn als ihre Mutter gestorben ist. Und anstatt ihr ein normales Teenagerleben zu ermöglichen, hatte er sie zu irgendwelchen Geschäftsessen mit irgendwelchen senilen Knackern geschleppt? Das konnte doch wohl nicht sein Ernst gewesen sein. Obwohl scheinbar doch, denn sonst hätte er es ja nicht gemacht. In Genias Gedächtnis blitzten die vielen Geschäftsessen und Partys auf, zu denen sie auch immer die brave Tochter hatte spielen müssen. Sie spürte wie sich in ihr Wut zusammenbraute. Wenn sie das nächste Mal Constantin gegenüberstehen würde, konnte er zufrieden sein, wenn er nach ihrem Besuch noch in einem Stück in seinem Bett dahinvegetieren konnte. Nein, sie würde keine Rücksicht mehr auf seinen Zustand nehmen. Er hatte ja auch keinen auf den eines in der Entwicklung steckenden Teenagers genommen. Und eins war klar, wenn sie hier wirklich einen Vertrag finden würden, den er mit dem Drachen, der sich ihre Mutter geschimpft hatte, geschlossen hatte, dann würde sie ihm das Teil um die Ohren schlagen. Wie nannte man eigentlich einen Vertrag, der von zwei Teufeln unterschrieben wurde? Höllen-Kontrakt? Diabolische Vereinbarung? Wie auch immer. Je mehr sie erfuhr, desto mehr kam sie zu dem Entschluss, dass das Schicksal doch irgendwie gerecht war und jeder seine Strafe bekam. Ihre Mutter, in dem sie tot umgekippt war und ihr niemand eine Träne nachweinte und Constantin.....sie dachte an die Hülle, die sie im Pflegeheim getroffen hatte..... keine Ahnung, wer es schlimmer von beiden getroffen hatte. Oder doch....das war mit Sicherheit Constantin, wenn sie ihrer Wut Luft machen würde. Wenn er wusste, was gut für ihn war, kippte er am besten vorher einfach tot um, denn sie konnte wirklich für nichts garantieren, wenn sie ihm gegenüberstand. Ja, er sollte im Höllenfeuer schmoren, genau wie ihre Mutter. Obwohl, wahrscheinlich hatte selbst der Teufel Angst vor den beiden. Das Klingeln ihres Handy riss sie aus ihren Gedanken. „Das ist bestimmt Luca, der Sehnsucht nach mir hat." Genia zog ihr Handy aus der Hosentasche und nahm das Gespräch an. „Ist Ina bei dir?" Das war Linus und nicht Luca. „Ich habe dein Auto vor der Tür gesehen und ihr Handy liegt hier unten in ihrer Tasche. Ich kann sie nicht finden und nicht erreichen. Seid ihr zusammen spazieren?" Die Stimme am anderen Ende der Leitung wirkte total nervös und besorgt. „Wir sind auf dem Dachboden und sortieren ein paar alte Sachen durch."  „Ah, okay", Linus wirkte etwas erleichtert, aber irgendetwas schwang noch in seiner Stimme mit. „Vielleicht hast du ja Lust uns zu helfen", schlug Genia ihm vor. Ja, zu dritt würden sie wahrscheinlich schneller voran kommen. Besonders, wenn eine der Personen nicht immer nostalgisch wurde. Anstatt einer Antwort hörte sie aber nur polternde Schritte auf der Treppe, ehe die Tür vom Dachboden aufgerissen wurde und Linus schweratmend im Türrahmen auftauchte. War er hier hochgesprintet?  „I....Ina....da...", hechelte er. Er atmete zweimal tief ein und versuchte seinen Atem zu beruhigen, ehe er weitersprach. „Ina, da war eben ein Anruf für dich. Du sollst dringend zurückrufen."

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt