Kapitel 104

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Linus setzte den Blinker und knallte den Rückwärtsgang rein. Wenigstens fand er gleich einen Parkplatz, nachdem er fast eine halbe Stunde im Stau gestanden hatte. Der Blick zur Uhr sagte ihm, dass er wenigstens nur fünf Minuten Verspätung hatte. Und das, obwohl er sogar auf seinen Morgenkaffee verzichtet hatte, weil er sonst zu spät losgekommen wäre. Und wofür, wenn er doch zu spät kam? Gerade jetzt könnte er den Kaffee auch mehr als gut gebrauchen. Auch wenn sein Körper einen gewissen Schlafmangel schon gewöhnt war, verspürte er gerade einen echten Anflug von Müdigkeit und Abgeschlagenheit. So wie früher, wenn er die Nacht durchgemacht hatte. Er hatte es in der Eile nicht einmal mehr geschafft, sein Nachtlager auf dem Sofa noch zu beseitigen. Alles egal. Er würde den Termin hier schnell runterreißen und dann auf dem Weg zum Büro erst einmal einen Zwischenstopp einlegen und sich einen ordentlichen Kaffee und ein Brötchen oder Plunderstück zur Stärkung besorgen. Ja, das war ein Plan.
„Hallo, Herr Hansen." Der Bauleiter kam im Sturmschritt auf ihn zugestürmt. „Tut mir leid, dass ich mich verspäte, aber ich stand im Stau und es wollte und wollte einfach nicht vorwärts gehen. Das ist hier jeden Tag der gleiche Mist. Ich hoffe, Sie mussten nicht zu lange auf mich warten." Nee, musste Linus nicht, schließlich hatte er ja im gleichen Stau gestanden. Trotzdem fragte er sich, warum der Kerl dann nicht einfach den täglichen Stau in seine Anfahrtszeit mit einbezog, wenn er von ihm wusste. Also er selbst hätte es getan, wenn er davon gewusst hätte. Diese Einstellung empfahl den Bauleiter nicht gerade für die nächste Gehaltserhöhung. Nein, diese Einstellung vermittelte eher, dass die Einhaltung von Terminen für ihn keine sonderliche Priorität hatte. Und das war im Baugeschäft fatal. Erst gestern hatte Linus diese Lektion noch einmal erteilt bekommen. Sofort stieg wieder der Frust in ihm auf, den er gestern Abend mit dem Bier heruntergespült hatte. Er war sich so was von dämlich vorgekommen als er dort auf der leeren Baustelle mit dem Bauherren gestanden hatte. Sämtliche Erklärungsversuche waren ins Leere gelaufen. Ja klar, wie sollte man auch glaubhaft erklären, dass der Bau vorfristig fertig wurde, wenn nicht einmal ein Handwerker dort zu sehen war. Das einzige Lebewesen, das dort herumgeflitzt war, war eine von ihnen aufgeschreckte Maus gewesen. Er fragte sich wirklich, was in Ina gefahren war dort alle Leute ohne Rücksprache mit ihm abzuziehen. Das war ihre wichtigste Baustelle. An ihr hingen so einige vielversprechende Folgeaufträge, die die Firma in sicheres Fahrwasser für mindestens die nächsten zehn Jahre bringen würden. Das waren richtige Großaufträge. Die konnten sie jetzt aber wohl vergessen. Linus bezweifelte, dass der Bauherr noch genug Vertrauen in ihre Firma hatte, um sie damit zu betrauen. „Also, wollen wir dann die Begehung machen oder uns erst noch einen Kaffee im Bauwagen schnorren gehen?" Der Bauleiter grinste ihn breit an und Linus musste kein Hellseher sein, um zu wissen, was er sich für eine Antwort erhoffte.  Auch wenn dafür eigentlich keine Zeit war, hörte er sich Kaffee antworten. Keine fünf Minuten später hielt Linus eine dampfende Tasse mit der warmen dunklen Substanz in seinen Händen. Der erste Schluck ließ ihn sich fast schütteln, so bitter schmeckte das Zeug. Aber es hatte einen Vorteil, es weckte seine sämtlichen Geister. Wahrscheinlich hätte es sogar Tote wieder aufgeweckt. „Danke für den Kaffee", bedankte Linus sich bei den Handwerkern, die gerade eine kleine Frühstückspause eingelegt hatten und sich auch wieder an die Arbeit machten. „Na dann wollen wir mal." Auffordernd schaute er seinen Bauleiter an, der schon wieder irgendwelche Textnachrichten tippte. Als Antwort bekam er ein abwesendes Nicken.
Linus lief über die Treppe, die noch im provisorischen Zustand war die Stufen wieder hinunter ins Erdgeschoss. So wie es aussah, war hier auf der Baustelle wenigstens alles im Plan. Das beruhigte ihn. Selbst die winterlichen Temperaturen schienen ihnen da nicht wirklich einen Strich durch die Rechnung zu machen. Zusammen mit dem Bauleiter stand er neben dem Baugerüst und ließ seinen Blick den Bau hinauf wandern. „Also hier müssten wir doch bis Weihnachten....", hörte er die Stimme des Mannes neben sich. Linus traute seinen Augen nicht. Das war...er reagierte so schnell er konnte und sprang zur Seite. Ein lautes Rumsen und ein schmerzvoller Aufschrei sagten ihm, dass er wohl der einzige war, der reagiert hatte. Ja, der Bauleiter saß auf dem Boden und hielt sich seinen Kopf. Zwischen seinen Fingern quoll Blut aus einer Wunde hervor. Wie in Trance griff Linus zu seinem Handy und wählte den Notruf 110. „Polizei Wuppertal." Nein nicht schon wieder die falsche Nummer! Egal! Schnell erzählte er, was passiert war und erhielt das Versprechen, dass sofort ein Rettungswagen geschickt wurde. Linus Herz begann zu rasen und er spürte, wie die Übelkeit in ihm aufstieg. Er musste helfen. Jetzt sofort. Aber er konnte sich nicht bewegen. Es war als wäre er steif gefroren. „Menno, dat kann ja man nich wahr sein." Ein Bauarbeiter schob ihn beiseite. „Jeder Heijopei weiß, dat man hier nicht ohne Helm herumturnen darf." Helm! Linus griff zu seinem Kopf. Scheiße, er hatte in der Eile vorhin auch seinen Helm im Auto vergessen. Das war ihm noch nie passiert. Die nächsten Minuten vergingen wie Stunden. Irgendwann war endlich der Rettungswagen da. „Ich kann nicht ins Krankenhaus. Ich muss mich um meine Tochter kümmern und sie aus der Kita abholen", hörte Linus die protestierende Stimme wie aus weiter Ferne. „Das kann mit Sicherheit auch deine Frau machen", kam die Antwort von einem der Handwerker. „Nein, kann sie nicht. Ich bin alleinerziehend." „Und wenn wir Sie jetzt nicht ins Krankenhaus bringen, können Sie vielleicht niemals mehr Ihre Tochter aus der Kita abholen, wenn wir ein Schädel-Hirn-Trauma übersehen." Na der Rettungssanitäter war ja feinfühlig. Schädel-Hirn-Trauma! Linus wurde noch übler, wenn das überhaupt möglich war. Er stieß sich von der Wand ab, an der er gelehnt hatte und lief los. Mit jedem Schritt wurde er schneller. Hektisch wühlte er in seiner Jackentasche nach den Autoschlüsseln und öffnete sein Auto. Er musste hier weg. Sofort! Schnell ließ er sich in den Sitz gleiten und startete den Motor. Er trat auf das Gaspedal. Im Rückspiegel sah er das Blaulicht immer kleiner werden.

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt