Kapitel 114

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Linus schaute aus der Seitenscheibe. Barcelona hatte sich schon für Weihnachten herausgeputzt. Scheiße, Weihnachten! In zwei Tagen war Heiligabend. Er musste an Ina und Natascha denken, die jetzt ganz alleine in der Villa feiern mussten. Manno, das hatte er gar nicht bedacht. Vielleicht hätte er ja auch noch die paar Tage durchhalten können. Wäre es wirklich besser gewesen, wenn er erst nach Weihnachten verschwunden wäre? Nein, absolut nicht. Dafür gab es nie einen passenden Zeitpunkt, der keinen verletzte. Außerdem musste er jetzt auch mal egoistisch sein und an sich denken. Er hätte keinen weiteren Tag mehr in diesem Hamsterrad durchgehalten. Fernando passierte gerade den Platz am Columbus Denkmal.  Linus Blick ging zu den Booten, die im Hafen ruhig vor sich hinschaukelten. Es war nicht mehr weit bis Barceloneta. Das zeigte auch das geschäftige Treiben der vielen Leute, die hier unterwegs waren. Genau das war es, was er so an Barcelona liebte. Hier pulsierte immer das Leben. Ja, Barcelona war auch eine Hafenstadt, genau wie Hamburg. Wahrscheinlich war es einer der Gründe, warum Linus sich hier so wohl fühlte. Hier war immer irgendetwas los. Diese Stadt schlief nie wirklich. Linus dachte an die vielen kleinen Bars. Hier spielte sich das Leben einfach viel mehr draußen ab als zu Hause. Klar, galten die Leute aus Barcelona, genau wie die aus Madrid, als die Hektiker Spaniens, aber trotzdem war es irgendwie ganz anders als in Deutschland. Bei all der Hektik behielten die Leute hier trotzdem ihre gute Laune und liefen nie so miesepetrig herum wie in Deutschland. Das lag zu einem Teil bestimmt auch an dem milderen Klima und der Sonne, die hier öfter schien. War ja klar, dass man bei Sonnenschein nicht wirklich schlechte Laune haben konnte. Und andererseits war es aber auch die lebensfrohere und kommunikativere Mentalität der Spanier. Fernando bog in eine kleine Seitenstraße ab. Die Gegend hier kam Linus sofort bekannt vor. Ja, ein paar Seitenstraßen weiter lag genau der Ort, an den er wollte. Fernando hatte eingeparkt und den Schlüssel aus dem Zündschloss gezogen. „So, wir sind angekommen." Er lächelte Linus freundlich an. „Kann ich dir als Dankeschön noch einen Kaffee da vorne ausgeben?" Irgendwie hatte Linus das Bedürfnis sich zu bedanken. Und gleichzeitig wollte er irgendwie auch nicht einfach alleine in die Bar marschieren und um einen Job bitten. Nein, er wollte erst einmal vorsichtig die Lage sondieren. Genaugenommen war er auch nicht auf einen Job angewiesen. Nein, im Gegensatz zu früher war sein Kontostand mehr als passabel. Außerdem hatte er ja auch nicht vor ewig wegzubleiben, so wie damals. Nein, er musste nur zu sich finden und dann.....dann würde er zu Ina zurückkehren. Die Zeit hier konnte er auch gut nutzen, um einen Plan zu machen, was sich alles ändern musste. Ja, sie beide konnten einfach nicht so weitermachen, sonst würde einer von ihnen beiden über kurz oder lang genauso zusammenklappen und enden wie Inas Vater. Und das galt es zu verhindern. Fernando nickte. „Ja klar, warum nicht. Die Bar ist wirklich gut." Sie stiegen beide aus dem Auto und Linus schulterte seinen Rucksack. „Du musst unbedingt die gemischten Tapas probieren. Die sind einfach hervorragend. Ich würde sogar sagen, die besten in ganz Barcelona", schwärmte Fernando als sie die Bar betraten. „Dann bist du hier wohl Stammgast?" Linus kramte in seinem Gehirn, aber er konnte sich an Fernando nicht erinnern. „Ja, natürlich bin ich das, seit ich hier wohne. In den letzten zwei Jahren ist keine Woche vergangen, in der ich nicht wenigstens einmal hier war." Aha, deshalb konnte er sich also nicht an Fernando erinnern. „Hola Fernando!", wurde er auch prompt von der Theke begrüßt. „Na, das gibt es doch nicht. Linus, was machst du denn hier?" Pedro kam hinter dem Tresen hervorgeschossen. Fernando drehte sich überrascht zu ihm. „Na so wie es aussieht, bin ich hier wohl nicht der einzige Stammgast." „Linus ist kein Stammgast, Linus gehört zum Inventar.", lachte der ältere Mann, der Linus herzlich umarmt hatte und der Besitzer der Bar war. „Also, wenn du persönlich hier hinter der Bar stehst, muss es aber ziemlich schlecht mit dem Personal aussehen", lotete Linus sofort seine Chancen aus nach dem sein früherer Chef wieder hinter der Theke verschwunden war. Pedro nickte bedrückt mit dem Kopf. Er war zwar der Chef, aber jeder der ihn kannte,  wusste, dass er lieber in seinem Büro oder mit den Gästen an der Bar saß als dahinter zu stehen.„Du warst mein letzter guter Mitarbeiter, der hier alles im Griff hatte. Alle die nach dir gekommen sind, waren unzuverlässig und faul." Pedro winkte mit der Hand ab. „Also, was bleibt mir, als mich selbst hier hinzustellen. Oder hast du vielleicht Interesse? Sag mir deinen Preis." Die letzten Worte waren von einem spitzbübischen Lächeln begleitet worden. Na das lief ja besser als gedacht. Trotzdem tippte Linus sich nachdenklich ans Kinn. „Also für fünfzehn Euro die Stunde fange ich morgen an." Pedro riss seine Augen auf. „Madre mia, ist das dein Ernst?" „Okay, zehn Euro", reduzierte Linus grinsend. Wenn er ehrlich war, würde er sogar umsonst hier arbeiten, damit er seinen Kopf wieder frei bekam. „Ich meinte doch nicht den Lohn!" Pedro schüttelte ungläubig seinen Kopf. „Ich zahle dir zwanzig, wenn du sofort anfängst." Jetzt war es Linus, der ungläubig schaute, als ihm auch schon eine Schürze entgegen flog. „Ich muss mir aber erst noch eine Unterkunft suchen." Insgeheim hoffte er, dass sein alter Kommilitone César ihn bei sich wohnen lassen würde. Aber das musste er erst einmal klären. „Also, wenn du willst, kannst du bei mir ein Zimmer haben. Mein kleiner Bruder ist gerade ausgezogen und ich suche noch einen Mitbewohner", meldete sich Fernando zu Wort. „Dann hast du es auch nicht so weit zur Arbeit. Meine Wohnung ist hier gleich um die Ecke." „Also ab hinter die Bar, du hast jetzt eine Unterkunft." Pedro wedelte auffordernd mit seinen Händen. „Und als erst Amtshandlung machst du uns jedem ein Bier auf Kosten des Hauses." Pedro warf theatralisch seine Schürze hinter sich auf die Ablage und lief auf die andere Seite des Tresens, wo er sich neben Fernando niederließ. Linus band sich seine Schürze um und verschwand auf die andere Seite der Bar. Er blickte sich kurz um. Hier hatte sich nichts verändert. Er schnappte sich drei Flaschen aus der Kühlung und in ihm breitete sich nach langer Zeit mal wieder das Gefühl von Ruhe und Zufriedenheit aus.

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt