Kapitel 42

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Linus griff nach der Krawatte und legte sie sich um den Hals. Er hasste diesen Kulturstrick, aber heute blieb ihm nichts anderes übrig. Er musste zu einer Vertragsverhandlung und da hatte er sich angemessen zu kleiden. Verflucht, er würde diesen dämlichen Windsorknoten nie begreifen. Sein Vater war damals schon verzweifelt, als er ihn ihm beibringen wollte. Klar war sein Vater vom Bau und eher Grobmotoriker, aber für ihn hatte es genauso zur Erziehung seines Sohnes gehört, ihm beizubringen wie man eine Krawatte bindet, wie es für ihn dazu gehört hatte ihm den Umgang mit dem Schraubenzieher beizubringen. Linus musste grinsen. Bei beidem hatte sein Vater nur mäßigen Erfolg gehabt. Das sagte ihm auch ein Blick in den Spiegel. Der Stofffetzen um seinen Hals sah aus wie ein schiefhängendes Seemannstau. Stöhnend zog er alles wieder auseinander. Na dann auf ein neues. Glücklicherweise hatte er seinen Termin ja erst gegen Mittag. ,„Soll ich dir helfen bevor du dir die Finger brichst?" Ina war vor ihn getreten. Sie schob seine Hände beiseite und begann die Krawatte zu binden. In kürzester Zeit hatte sie einen perfekten Knoten geschaffen. „Danke, Pepincito. Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich machen würde." Ina grinste ihn breit an. „Keine Krawatten tragen." Blöderweise hatte sie damit recht, schoss es ihm durch den Kopf. Ohne sie und die Firma würde er mit Sicherheit nicht in diese Verlegenheit kommen. Nein, da wäre er irgendwo in südlichen Gefilden. Er würde einfach jobben und in den Tag hineinleben. Mit Sicherheit würde sich in seiner Nähe ein Strand befinden und ein Surfboard. Alleine bei dem Gedanken an Sonne, Meer und Strand breitete sich in ihm ein unglaubliches Fernweh aus. „Wir sollten mal wieder ein Wochenende verreisen", schlug er deshalb spontan vor. Ina schaute ihn überrascht an. „Das geht doch nicht. Ich kann doch hier jetzt nicht weg. Ich habe in der letzten Zeit wegen dieser Adoption schon viel zu wenig Zeit dort verbracht." Das stimmte. Ina hatte sich eine Menge Zeit genommen, um in den Tagebüchern weiterzulesen und alte Fotoalben zu durchforsten. Er konnte ja gut verstehen, dass sie gerade in einer Identitätskrise steckte und versuchte sie damit zu überwinden. Nicht umsonst hatte er auch versucht ihr möglichst viel abzunehmen, damit sie dafür die Zeit fand. So langsam wurde es ihm aber auch zu viel und er brauchte mal eine Auszeit. Im Moment drehte sich das Hamsterrad nämlich immer schneller und das gefiel ihm gar nicht. „Ab morgen ändert sich das aber. Da bin ich wieder voll in der Firma. Wenn ich nachher den Namen der Frau habe, dann kann ich damit abschließen." Das bezweifelte Linus ganz stark. Wahrscheinlich würde Ina dann erst recht wissen wollen, wer die Frau wirklich war. Wie sie aussah und was ihre Beweggründe waren sie wegzugeben. „Und du willst heute wirklich dort alleine hingehen?" Ina nickte. „Ja klar, du wirst ja in der Firma gebraucht. Und es ist doch nur eine Akte, in die ich schaue. Nicht mehr und nicht weniger." Linus fühlte sich trotzdem bei dem Gedanken nicht wirklich wohl. Er konnte sich noch gut daran erinnern wie Ina reagiert hatte, als sie von der Adoption erfahren hatte. Wer gab ihm die Sicherheit, dass sie heute nicht wieder so reagierte. Niemand.....und das machte ihm Angst und erfüllte ihn gleichzeitig mit Zorn. Wieder einmal war diese dämliche Firma Schuld.....

Drei Stunden später lief Ina den Gang des Amtes hinunter, den sie schon einmal entlang gelaufen war. Heute hatte sie aber einen Termin. Ja, erst heute. Blöderweise hatte Onkel Robert sie vertröstet und ihr erklärt, dass da nichts auf rechtlichem Wege zu beschleunigen sei. Okay, sie hatte zweiundzwanzig Jahre nichts von ihrer Adoption gewusst, dann waren die drei Wochen jetzt auch noch zu verkraften gewesen. Ina war ja gemeinhin ein geduldiger Mensch.....und ein aufgeregter. Jedenfalls gerade in diesem Moment, in dem sie über dieses altmodische Linoleum lief. So etwas würde heute keiner mehr in einem Gebäude verlegen. Da war sie sich sicher. Warum waren eigentlich diese ganzen Behörden so altbacken und verstaubt? Das hatte sie sich auch schon oft genug auf den Bauämtern gefragt. Da saßen angebliche Fachleute, die über hochmoderne Gebäude zu entscheiden hatten, in total veralteten Bürosärgen. Ina schnuffelte einmal in die Luft. Ja, dieser antiquierte staubige Geruch klebte irgendwie an allen Behörden, genau wie dieses triste Aussehen. Aber das war gerade total nebensächlich. Zielstrebig lief sie weiter den Flur entlang. Und mit jedem Schritt schlug ihr Herz einen Takt schneller. Vor der ihr bekannten Tür blieb sie stehen und atmete noch einmal tief durch, ehe sie klopfte und die Klinke herunter drückte. Als sie in das Zimmer eintrat, schaute sie erstaunt in das Gesicht einer Mitarbeiterin, die wahrscheinlich höchstens zehn Jahre älter als sie war. Wo war die alte Paragraphenreiterin hin? „Hallo, Sie müssen Frau Preetz sein", wurde Ina gleich freundlich begrüßt. „Stimmt. Woher wissen Sie das?" Ein wenig misstrauisch war sie da schon. „Weil Sie mein einziger Termin heute sind und in der Regel hier nicht viel Laufkundschaft vorbeikommt. Mein Name ist Bulisch." Ina wurde die Hand mit einem freundlichen Lächeln verbunden gereicht. „Kommen Sie mit, ich habe Ihnen hier schon die Akte bereit gelegt." „Das ist schön, ich habe ja auch lange genug darauf gewartet", rutschte es Ina heraus. Sie schob schnell ein Sorry hinterher. Auf keinen Fall wollte sie es sich mit der Sachbearbeiterin verscherzen und dann noch einmal einen neuen Termin machen müssen. „Wieso eigentlich? Sie hätten doch schon viel eher Einsicht bekommen. Mit 16 Jahren wurden sie doch schriftlich über die Möglichkeit der Einsichtnahme informiert." „Wie bitte?", rutschte es Ina ungläubig heraus. „Jedes adoptierte Kind hat ab 16 das Recht auf Einblick in seine Adoptionsakte. Und das wird ihm von Amts wegen auch mitgeteilt. Sie müssen damals also einen Brief von uns erhalten haben." Nein, hatte sie nicht. Und sie hatte auch schon eine Ahnung, wer diesen Brief hatte verschwinden lassen. „Ich meinte ja auch jetzt. Ich habe ja fast drei Wochen auf den Termin gewartet." Frau Bulisch schüttelte ihren Kopf. „Dann sind Sie wohl an Frau Rau geraten. Sie ist meine Mitarbeiterin, glauben Sie mir, ich zähle die Tage bis zu ihrer Pension." So wie sie dabei stöhnte, glaubte Ina ihr das sofort. „Sie hätten normalerweise innerhalb eines Tages hier einen Termin bei mir bekommen. Wahrscheinlich hatte sie wieder Angst ins Archiv im Keller zu gehen und die Akte zu holen. Sie denkt immer da tummeln sich die Ratten und würden nur darauf warten sie anzuspringen." Ina traute ihren Ohren nicht. Das konnte doch wohl nicht wahr sein, dass sie wegen so einer verstaubten Alten, die Angst vor ein paar Nagetieren hatte, so lange unnötigerweise warten musste. Als Ina an den Tisch in der Ecke des Büros trat und den grünen Papphängeordner dort liegen sah, begann ihr Herz noch schneller zu schlagen. „Ehe sie jetzt in die Akte schauen, möchte ich Sie noch darüber informieren, dass ich Ihnen gerne zur Seite stehe, wenn Sie Fragen bezüglich des Vorgangs haben. Außerdem gehört es auch zu meinen Aufgaben Ihnen behilflich zu sein, mit Ihrer leiblichen Mutter Kontakt aufzunehmen, wenn es gewünscht ist. Ich bin dann sozusagen der neutrale Vermittler." Ina nickte. Da würde kein Bedarf bestehen. Sie wollte nur den Namen wissen. Nicht mehr und nicht weniger. Mit klopfendem Herzen schlug sie die Akte auf und begann zu lesen und zu blättern bis ihr ein Name förmlich in die Augen sprang....

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt