Kapitel 59

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Ina ließ sich etwas kaltes Wasser über die Handgelenke laufen. Das hatte sie schon immer gemacht, wenn sie sich etwas gestreßt fühlte. Eigentlich gab es ja überhaupt keinen Grund dafür. Sie war doch einfach nur bei ihrer neuen Familie. Und genau da war der Haken. In ihrem Alter sollte es eigentlich keine neue Familie sein. Nein eigentlich sollte es nur Familie sein, ganz ohne irgendwelchen Zusatz. Aber das war es nicht und wenn sie ganz ehrlich war, verstand sie immer noch nicht ganz, was damals passiert war. Ina wandte sich wieder der Badtür zu und entriegelte sie. Als sie hinaus in den Flur trat, erwartete sie dort schon Genias Vater....ähm nein, ihr Opa. Das Wort fühlte sich irgendwie komisch für sie an. „Ina, kann ich dich bitte einmal kurz sprechen?" Sofort begann Inas Herz zu rasen. Wollte er ihr sagen, dass er sie doch nicht in seiner Familie wollte? „Komm, wir gehen in mein Büro. Da haben wir etwas Ruhe." Er deutete mit seiner Hand den Flur entlang und Ina folgte ihm. „Setz dich doch!" Jo bot ihr einen Platz auf dem kleinen Sofa an, dass auch in seinem Büro stand. Ja, ihn Jo zu nennen, fühlte sich momentan am Besten an. „Hier schlafe ich manchmal, wenn ich mal wieder völlig die Zeit vergessen habe und Alex nicht wecken möchte", grinste er schelmisch und zum ersten Mal betrachtete Ina ihn genau. Er hatte die gleichen blauen Augen wie Genia.....und wie sie. Dann hatte sie sie wohl von ihm geerbt. Früher hatte sie sich schon immer gefragt, wo ihre Augenfarbe herkam, denn weder ihr Vater noch ihre Mutter hatten blaue Augen. Auch sein Lächeln hatte viel Ähnlichkeit mit dem von Genia. Beide hatten leichte Grübchen. Da hatte es bei ihr wohl nicht für gereicht. Schade eigentlich, sie mochte Grübchen, so wie auch bei Linus. Jo setzte sich zu ihr auf das Sofa und begann seine Hände zu kneten.  Das war selten ein gutes Zeichen, schoss es Ina durch den Kopf. Normalerweise bedeutete es, dass sich derjenige am liebsten vor der folgenden Unterhaltung drücken wollte. „Ina...ich...." Jo fuhr sich mit seiner Hand über das Kinn und schaute sie unsicher an. „Ina, ich fand dich schon bei unserem ersten Treffen zu Genias Geburtstag sehr nett. Es war so, als würden wir uns schon ewig kennen, als wir uns unterhalten haben." Ja, genau das Gefühl hatte Ina damals auch gehabt. „Damals habe  ich nicht einmal gewusst, dass du meine Enkeltochter bist. Und ich bin sehr stolz, dass du es bist und wir dich endlich in unserer Familie haben." Er stieß mit einem leisen Geräusch seinen Atem aus.  „Aber genau das ist auch der Punkt, der mir Sorgen macht. Und ich hätte wirklich nicht gedacht, dass es so schwer werden würde, mit dir darüber zu sprechen." Ina zuckte innerlich zusammen. Das hörte sich so...so an, als wollte er sie doch nicht hier haben. Sie musste schlucken. „Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob du genauso stolz bist, mich auch deinen Opa zu nennen. Schließlich trage ich eine nicht gerade geringe Mitschuld daran, dass du nicht schon immer bei uns warst." Ina schaute ihn irritiert an. „Ich habe mich damals schließlich nicht meiner Exfrau in den Weg gestellt als sie dich weggegeben hat." Das.....daran hatte Ina noch gar nicht so explizit gedacht. Ja natürlich hatte Genia ja nicht nur eine Mutter gehabt, sondern auch einen Vater. „Warum bist du nicht eingeschritten?" Jo verzog sein Gesicht und schaute sie schuldbewusst an. „Sagen wir mal so, Birgit war ein ziemlich durchsetzungsstarker Mensch, der sich nicht so einfach von seinen Ideen abbringen ließ. Sie hatte ihre Firma und war es gewohnt, dass alle nach ihrer Nase tanzten." Ja, das kannte Ina. Ihr Vater war genauso gewesen als er noch in der Firma tätig war. „Und ich..." Jo zuckte mit den Schultern. „Wie soll ich es am besten sagen? Ich möchte ja nicht deinen kompletten Respekt verlieren. Und noch viel mehr, möchte ich dich nicht verlieren." Wieder machte er eine kurze Pause und starrte zu seinem Schreibtisch als würde dort die Antwort liegen. „Sagen wir mal so, früher habe ich mich oft einfach in meiner Arbeit verkrochen und nicht mitbekommen, was hinter meinem Rücken so alles ablief. Ich weiß, dass ist keine wirkliche Entschuldigung. Es gibt viel wichtigere Sachen als einen mathematischen Beweis. Das weiß ich heute. Damals war ich noch nicht so weit. Im Grunde war es immer ein Kampf in unserer Ehe. Auch das ist keine Entschuldigung. Ich war ein erwachsener Mann und ich hätte die Verantwortung für meine Tochter und meine Enkelin übernehmen müssen." „Hast du dich denn niemals gefragt, wo ich gelandet bin?" Die Frage war Ina spontan herausgeschossen. „Birgit hat mir versichert, dass du bei sehr netten Eltern gelandet bist, die dich adoptiert haben, weil sie keine eigenen Kinder haben konnten. Sie war der Meinung, dass Genia nicht in der Lage wäre dich in ihrem jungen Alter aufzuziehen." Jo stieß Luft aus. „Ich habe ihr geglaubt, dass es so am Besten wäre. Genia war ja wirklich noch sehr jung und musste doch erst einmal ihre Schule und das Studium fertig bekommen. Natürlich habe ich ihr geglaubt, dass du es bei einem Ehepaar, dass sich richtig um dich kümmert besser hast." Er kratzte sich verlegen am Kopf. „Ich hätte nicht so leichtgläubig sein dürfen. Heute weiß ich, dass ein Kind immer zu seiner Mutter gehört. Ich kann dich nur genauso wie Genia um Vergebung bitten und hoffen, dass du mich trotzdem immer noch als Opa haben magst. Denn ich möchte dich unbedingt als meine Enkelin in meinem Leben haben." Bei den letzten Worten war seine Stimme brüchig geworden. Wie sollte Ina auf diese Ansprache reagieren? Natürlich hätte er seine Tochter dabei unterstützen müssen, das Kind behalten zu können. Dann wäre sie bei ihrer Mutter aufgewachsen. Aber andererseits hatte sie bis jetzt ein sehr gutes Leben gehabt. Das durfte man auch nicht vergessen. Und wenn Genia ihm verziehen hatte, wie könnte sie es dann nicht? „Ich will dich auch in meinem Leben haben, Opa!", kam es ganz wie von selbst. Und dieses Mal fühlte sich auch das Opa richtig an.

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt