Kapitel 75

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Nach der Arbeit hatte Ina es eilig nach Hause zu kommen. Da sie gestern Nacht ja nicht mehr dazu gekommen war, auf dem Dachboden nach dem Ordner zu suchen, wollte sie jetzt keine weitere Zeit verschenken. Ja, sie hatte heute die Arbeit nicht schwänzen können, weil sie einfach zu viele wichtige Termine gehabt hatte. Es war ganz schön schwer gewesen, sich darauf zu fokussieren, weil ihre Gedanken immer wieder zu dem Inhalt des Tagebuchs abgewandert waren. Aber in nicht einmal fünf Minuten würde sie nichts und niemand davon abhalten können, den ganzen Dachboden nach dem Ordner zu durchforsten. Ja, sie hatte beschlossen erst in dem Tagebuch ihrer Mutter weiterzulesen, wenn sie diesen vermaledeiten Vertrag, von dem ihre Mutter schrieb, gefunden hatte. Ina bog mit ihrem Auto auf die Garageneinfahrt und drückte in Sekundenschnelle den Knopf, der den Motor verstummen ließ. Sie schnappte sich ihre große Schultertasche und stieg aus. Jetzt waren es nur noch ein paar Schritte, die sie vom Dachboden trennten. Ein Blick an ihrem Körper hinunter warf einen Gedanken auf. Sollte sie wirklich in diesem Babyblauen Hosenanzug dort in dem Staub herumwühlen? Vielleicht sollte sie sich erst noch umziehen. So viel Zeit war auch noch. Sie griff in ihre Tasche, um die Schlüssel für die Haustür herauszuholen, als sich gerade die Tür vor ihr öffnete und Frau Senger ihr gegenüber stand. Ihre Haushälterin lächelte sie freundlich an. „Frau Goretzka hat gesagt, dass ich schon gehen kann. Sie hat versprochen ein Auge auf Natascha zu haben. Heute hat doch meine Enkelin Geburtstag." Der letzte Satz hatte fast schon entschuldigend  geklungen. „Ja, das ist völlig okay. Viel Spaß", antwortete Ina reflexartig. „Meine Mutter ist da?", kam es dann aber doch noch irritiert von ihr. War sie heute mit Genia verabredet und hatte das völlig vergessen? Das war ihr ja noch nie passiert. Ina begann in ihrem Kopf noch einmal ihre Termine durchzugehen, während sie ins Haus lief. Nee, da war keine Verabredung, an die sie sich erinnern konnte. „Hallo, ich hoffe, du bist nicht sauer, dass ich dich einfach so überfalle, aber mir ist zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen. Luca ist bei irgendwelchen Kommilitonen und Espie ist bei meinem Vater und ich muss sie erst nachher abholen. Sie hat heute ihren Opa-Tag." Opa-Tag, Ina musste schmunzeln. Den hatte sie früher, als sie noch ganz klein war, auch immer mit dem Vater ihrer Mutter gehabt. Er war dann meist mit ihr in den Zoo und Eis essen gegangen. Was wohl ihr richtiger Opa mit Espie machte? Ob er mit ihr wohl auch so einen Opa-Tag gemacht hätte, wenn sie damals in seinem und im Leben ihrer Mutter eine Rolle gespielt hätte? Bei dem Gedanken schoss ihr sofort wieder ihr eigentlicher Plan durch den Kopf. „Du glaubst nicht, was ich gestern im Tagebuch meiner Mutter gelesen habe", platzte es aus Ina heraus. Irgendwie ging das ja auch Genia etwas an, wenn es da irgendsoeinen Vertrag gab. Schließlich musste Genias Mutter diesen ja mit ihrem Vater abgeschlossen haben. Alles andere gab keinen Sinn. „Dass du das süßeste und liebste Mädchen auf der Welt bist und dass sie glücklich ist, dass du ihre Tochter bist?" Genias Stimme hatte so einen weichen Klang, dass man denken konnte, es waren ihre eigenen Gedanken, die sie da von sich gab.  „Oder, dass du etwas total lustiges angestellt hast?" Sie zwinkerte ihr lächelnd zu. Man, wie Ina dieses Lächeln mittlerweile liebte. Sie sah ihre Mutter am liebsten so, dann strahlten ihre blauen Augen immer so spitzbübisch. Ina schüttelte den Kopf und lief zu dem alten Sekretär im Wohnzimmer, auf dem das Tagebuch lag. Sie schlug es auf und reichte es Genia. „Hier, ließ selbst." Vielleicht hatte sie das Ganze ja auch einfach nur falsch aufgefasst. Obwohl...eigentlich gab es da nichts falsch aufzufassen oder zu verstehen. Die Worte ihrer Mutter waren klar und deutlich formuliert. „Ist das das Tagebuch deiner Mutter?" Genia schaute sie fragend an. Ina nickte. „Ich kann doch nicht einfach in ihrem Tagebuch lesen. Das ist irgendwie nicht in Ordnung. Tagebücher sind etwas sehr Privates. Und ich kannte deine Mutter nicht einmal." Da hatte Genia im Grunde recht. Und es sprach auch für ihren Charakter, dass sie nicht einfach die Intimsphäre einer anderen Person stören wollte. „Was da steht betrifft auch dich und ich bin mir sicher, dass Mama nichts dagegen hätte, dass du das erfährst." „Okay, wenn du meinst." Genia schaute zögerlich in das aufgeschlagene Tagebuch, das ihr Ina gereicht hatte. „Deine Mutter hatte eine wirklich schöne Schrift." Auch wenn Ina klar war, dass das eine Verlegenheitsfloskel war, musste sie Genia recht geben. Ihre Mutter hatte eine schön geschwungene und trotzdem saubere Handschrift. Ina beobachtete wie Genias Augen über das Papier wanderten. Zu erst hatte sie auf ihrer Unterlippe gekaut. Das hatte sie aber ziemlich schnell eingestellt. Anstelle dessen ließ sie ein empörtes Schnaufen erklingen. „Das kann doch wohl nicht wahr sein, dass dieses Miststück, dass sich meine Mutter genannt hat, dich einfach an deinen Vater gegeben und ihn dafür bezahlt hat, dass er dich sozusagen für mich verschwinden lässt." Dann zog Genia also die gleichen Schlussfolgerungen wie sie. Das beruhigte sie etwas.....und auch wieder nicht, wenn sie bedachte, was das für ihr Verhältnis zu ihrem Vater bedeutete. Genia schüttelte fassungslos den Kopf. „Was hätte sie gemacht, wenn er sich geweigert hätte? Hätte sie dich dann wie einen jungen Welpen ersäuft oder mit einem dicken Scheck an der Windel nach Afrika geschickt? In der Hoffnung, dass sich schon irgendwer um dich kümmert?" Genia legte das Tagebuch beiseite und lief auf und ab.  „Ich glaube das einfach nicht. Sie hat dich mir weggenommen und dann sowas abgezogen. Und dein Vater hat mir mehr als deutlich klar gemacht, dass er dich nicht will, als ich ihm von meiner Schwangerschaft erzählt habe. Aber mit einem dicken Scheck war dann doch plötzlich Interesse da. So ein verficktes Arschloch!" Genias Gesicht war vor Wut rot angelaufen. „Sorry, das .... Das wollte ich nicht sagen. Er ist ja schließlich dein Vater.....und bestimmt.....bestimmt hat er einfach seine ....seine Meinung geändert." Genia hatte sie in ihre Arme gezogen. Und auch wenn sich ihre Entschuldigung nicht schlüssig anhörte, liebte Ina sie gerade umso mehr, denn Genia hatte trotz ihrer Wut als erstes wieder an sie gedacht. Und das tat unheimlich gut. Genau wie die tröstende Umarmung ihrer Mutter. „Nein, du hast ja recht. Wenn er das gemacht hat, dann ist er ein..." Ina schluckte einmal kurz. „...ein Arschloch!" So hatte sie ihren Vater noch nie genannt, aber scheinbar hatte er es ja verdient. „Hast du den Ordner schon gefunden?" Ina schüttelte den Kopf. „Ich wollte ihn jetzt eigentlich gerade auf dem Dachboden suchen gehen." Genia löste ihre Umarmung und griff ihre Hand. „Na dann los! Worauf warten wir noch?"

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt