Linus hatte den Motor bereits vor mindestens fünf Minuten abgestellt, aber er saß immer noch auf dem Fahrersitz und starrte auf seine Hände vor ihm, die das Lenkrad umklammerten. Seine Knöchel traten weiß hervor. Er schloss seine Augen und ließ langsam seinen Kopf gegen das Lenkrad sinken. Die Fahrt bis hierher hatte er fast im Blindflug absolviert, während in seinem Kopf der Aufschrei des Bauleiters ein ständiges Echo bildete. Warum hatten sie beide nicht die Schutzhelme getragen, die auf der Baustelle Pflicht waren? Es wusste doch jeder, dass das auch einen Grund hatte. Nämlich den, dass man nicht gleich verletzt wurde, wenn einen etwas an den Kopf traf. Seine Gedanken wanderten zu dem schmerzverzerrten und blutüberströmten Gesicht von seinem Angestellten. Schädel-Hirn-Trauma hatte der Rettungssanitäter gesagt. Das war.....das war doch oftmals tödlich oder man endete als Pflegefall. Da gab es ja auch mindestens ein prominentes Beispiel für. Das wusste Linus, auch wenn er nicht so in der Klatsch- und Tratschpresse zu Hause war. In ihm keimte das Gefühl von Panik auf. Was war, wenn der arme Kerl wirklich so ein Trauma hatte? War dann nicht möglichst schnelle Erste-Hilfe das ausschlaggebende Momentum für die Folgenschwere der Verletzung? Was hätte er als Ersthelfer tun müssen? Bestimmt irgendetwas. Aber natürlich hatte er wieder versagt. Genau wie damals im Büro als sein Kollege vom Stuhl gekippt war. Verflucht! Warum hatte er immer noch keinen Erste-Hilfe-Kurs seit damals absolviert? Weil er es immer verdrängt hatte. Und was war die Folge davon? Das er wieder die falsche Notrufnummer in seiner Panik gewählt hatte. Was lief mit ihm da bitte verkehrt? Das war doch wichtige Zeit, die da verschenkt wurde, weil er die falsche Nummer wählte. Wichtige Zeit, die vielleicht damals das Leben hätte retten können. Und heute? Linus spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Damals war er dafür verantwortlich gewesen, dass eine Frau ihren Mann und eine Tochter ihren Vater verloren hatte. Hätte er damals anders reagiert und sofort erste Hilfe geleistet, würde es da heute in Hamburg nicht eine Mutter geben, die neben ihrem normalen Job noch als Garderobiere in einem Musicaltheater arbeiten musste, um sich und ihre Tochter über die Runden zu bringen. Wahrscheinlich wären sie alle drei glücklich in ihrem Einfamilienhaus am Stadtrand. Vielleicht wären sie sogar zu viert. Und heute hatte er wieder versagt. Auf ganzer Linie. Er hatte es nicht einmal geschafft, sich darum zu kümmern die Blutung zu stoppen. Der Bauleiter hätte dort vor seinen Augen verbluten können, weil er nicht in der Lage war, sich zu bewegen. Er hatte dort wie ein eingefrorenes verängstigtes Kaninchen an der Wand gelehnt und sich nicht einmal gerührt, während zwei der Handwerker sofort zu ihren Autos gestürzt waren und die Erste-Hilfe-Kästen geholt hatten. Sie hatten die Erstversorgung vorgenommen. Und er war wieder zu blöd gewesen, selbst die richtige Notfallnummer anzurufen. Was, wenn das dem Bauleiter das Leben kostete? Die Worte alleinerziehend und Kindergarten abholen echoten in seinem Kopf. Dann war er ab jetzt auch noch dafür verantwortlich, dass ein kleines Mädchen ganz alleine dastand. Linus musste schlucken. Ein weiterer Gedanke manifestierte sich in seinem Kopf. Der Stein hätte auch ihn selbst treffen können. Er hatte seinen Helm im Auto vergessen, weil er in Eile war. Ja, er wäre sonst nicht pünktlich zum Termin gewesen. Und außerdem hatte er schon wieder tausend andere Sachen im Kopf gehabt, die er heute noch zu erledigen hatte. Alles drehte sich nur um die Firma. Sofort spürte er wieder dieses Hamsterrad, das ihn immer schneller rennen ließ. Das Hamsterrad, in dem er auch damals gerannt war, als es seinen Kollegen getroffen hatte. Der Tod von ihm war wie ein Warnschuss für ihn gewesen. Er wollte auf keinen Fall genauso enden. Damals hatte er es geschafft, aus dem Rad herauszuspringen. Er hatte alles auf Reset gedrückt und war ausgestiegen. Er hatte alles hinter sich gelassen und ganz neu angefangen. Ohne Stress. Ohne Erfolgsdruck. Einfach nur das Leben genießen. Das war sein Leitsatz gewesen. Was war heute mit diesem Leitsatz? Er hatte ihn vor zwei Jahren über Bord geworfen, als er mit Ina nach Deutschland zurückgekehrt war. Obwohl so stimmte es nicht ganz. Er war damals der Meinung gewesen, dass er Ina davor beschützen musste, den gleichen Fehler wie sein Kollege zu machen und sich zu viel Arbeit aufzuladen. Damals wollte er ihr Bremsklotz sein, der auf eine gute Work-Life-Ballance achtete. Er war sich sicher, dass er alles gut im Griff hatte. Er wusste ja, worauf es ankam. Das hatte ja auch gut geklappt. Jedenfalls bis zu dem Moment , als alles aus dem Ruder gelaufen war. Wann war dieser Moment? Genau benennen konnte er ihn nicht. Aber mit Sicherheit hatte die Adoption von Ina und der Tod ihres Vaters dem Hamsterrad noch einen zusätzlichen Schwung verliehen. Wenn Linus ehrlich war, wusste er nicht, wie er es stoppen sollte. Er konnte doch nicht einfach wieder herausspringen und alles auf Reset drücken, so wie damals. Schließlich gab es da jetzt auch Ina und Natascha. Für die beiden war er doch auch verantwortlich. Aber was nützte es ihnen, wenn er einen Stein auf einer Baustelle auf das Gehirn bekam und dann weg war? Damit half er ja auch keinem. Eher im Gegenteil. Nein, es ging so absolut nicht weiter. Es musste etwas passieren. Und zwar sofort! Linus öffnete die Autotür und sprang aus dem Auto. „Hallo Linus!" Nataschas fröhliche Stimme schlug ihm entgegen. „Inibini hat mir erlaubt, dass ich nach Bochum zu Ben und Carmen darf." Die Kleine stand vor ihm und strahlte ihn breit an. „Frau Senger! Wo bleiben Sie denn?" Ungeduldig drehte sie sich zu der Haushälterin um, die gerade aus dem Haus trat. „Ich bringe Natascha nach Bochum und fahre dann gleich noch einkaufen. In der Küche stehen aber noch ein paar frische Pancakes", zwinkerte ihm die Haushälterin zu. Linus nickte und versuchte sich an einem freundlichen Lächeln, auch wenn sich in ihm alles dagegen sträubte. Wie auf Autopilot lief er in das Haus.
DU LIEST GERADE
Schuss und Treffer - in der zweiten Mannschaft ✔️ Teil 13
RomanceLinus und Ina sind schon seit zwei Jahren ein Paar. Gemeinsam führen sie das Bauunternehmen von Inas Vater, der seit seinem Herzinfarkt ein Pflegefall ist. Für Ina war der Weg in die Firma schon von kleinauf vorgezeichnet. Linus hatte sich sein Lebe...