Kapitel 116

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„Na Lütte, das haben wir doch gut hinbekommen." Thomas legte Ina den Arm um die Schulter und drückte sie sanft an sich, nachdem sie aus den Jacken geschlüpft waren und sie an der Garderobe aufgehangen hatten. Diese Umarmung tat gerade richtig gut. Der Tag in der Firma war lang gewesen und sie war zufrieden endlich wieder zu Hause zu sein. Und ja, Thomas hatte recht. Sie hatten das alles gut zusammen hinbekommen. Er hatte ihr gestern und heute in der Firma zur Seite gestanden. Sein ganzes praktisches Know-how war schon der Wahnsinn. Ihm konnten die ganzen Handwerker keinen Bären auf die Nase binden so wie ihr oder Linus. Im Zweifelsfall hatte er ihnen einfach widersprochen und einen Lösungsweg aufgezeigt. Ina musste schmunzeln. Selbst der Bauleiter hatte irgendwann nur noch respektvoll genickt. Okay, Thomas war ja auch eine beeindruckende Person. Und trotzdem war er auch noch herzlich dabei. Das zeigte ja gerade seine Umarmung. Wieso war ihr Vater eigentlich nie so gewesen? Und wieso hatte sie das früher nie gestört? Weil sie sich genauso wie alle anderen Menschen von ihm hatte blenden und beeindrucken lassen. Mittlerweile sah sie ihn aber mit anderen Augen. Er war ein Mensch wie jeder andere. Vielleicht sogar einer mit noch viel größeren Abgründen. Ja, Ina hatte mittlerweile so ziemlich viele dunkle Seiten an ihrem Vater kennengelernt. Er war absolut nicht mehr die Lichtgestalt, die er einmal für sie war. Wie hätte sich ihr Leben wohl entwickelt, wenn sie das schon früher alles gewusst hätte? Hätte sie dann vielleicht nicht Wirtschaftswissenschaften studiert und sich so in der Firma eingebracht? Möglich wäre es. Vielleicht hätte sie dann Modedesign oder Architektur studiert. In Ina keimte etwas Wehmut auf. Jetzt war es zu spät. Sie hatte ihren Weg eingeschlagen. Außerdem, wer sollte sonst diese Scheißfirma führen, wenn nicht sie. Scheißfirma! Innerlich zuckte sie zusammen. So hatte sie noch nie über die Firma gedacht. Sie war immer ihr höchstes Ziel gewesen. Selbst als ihr klar war, dass sie sie niemals alleine führen würde, sondern immer im Schatten eines Mannes ihre Lücke zu finden hatte. Ja, ihr Vater hätte sie ihr ja niemals alleine übergeben. Und jetzt.......jetzt konnte er nicht einmal mehr etwas dagegen machen. Diese Einstellung ihres Vaters war einfach lächerlich. Das war ihr mittlerweile klar. Was blieb ihr denn jetzt, wo Linus weg war? Sie konnte die Bude ja schlecht schließen. Bude war auch schon wieder eins von diesen negativ belegten Worten. Wieso hatte sich ihre Einstellung nur so geändert. Vor allem so schlagartig? Vielleicht weil sie sich nicht eingestehen wollte, dass Linus nur ihretwegen verschwunden war. Ja, sie versuchte sich einzureden, dass die Firma auch einen Anteil daran hatte. Das machte es viel leichter, als nur bei sich selbst die Schuld zu suchen. Trotzdem war es Blödsinn. Wieso versuchte sie sich etwas vorzumachen? Linus hatte doch eindeutig geschrieben, dass er das mit ihnen nicht mehr konnte und dass ihm das alles zu viel wurde. Ja, er hatte einfach genug von ihr, und fertig! „Da seid ihr ja endlich!" Astrid steckte ihren Kopf aus der Küchentür. Was machte sie denn in Frau Sengers Reich? „Wir haben schon das Abendessen fertig, Inibini. Ich habe die Nudelsauce ganz alleine gemacht." Natascha war aus der Küche gekommen und umarmte sie stürmisch. Okay, sie hatten sich fast zwei Tage nicht gesehen, weil Natascha bei Opa Jo in Bochum geblieben war. Wenn Ina ehrlich war, hatte sie noch gar nicht mit ihr vor Heilig Abend gerechnet. Heilig Abend! Das war ja schon morgen. Und sie hatte noch immer keine Geschenke. Verflucht! Das würde morgen heftig, noch für jeden etwas zu bekommen. Gleichzeitig bedeutete es, dass sie einfach nur etwas kaufte. Das war....das war Mist. So ein Geschenk sollte doch mit Liebe ausgesucht werden. Stattdessen würden es wahrscheinlich nur ein paar lieblose Gutscheine. Das gefiel Ina überhaupt nicht. Früher hätte sie das nicht weiter tangiert. Aber jetzt störte es sie massiv. Irgendetwas hatte sich in ihr total verändert. Okay, wenn sie sich nachher noch etwas Zeit nahm, würde sie vielleicht noch ein paar passende Ideen haben. „Wo ist Linus?" Natascha schaute an ihr vorbei in die Eingangshalle. „Kommt er auch gleich?" Mist, ihre Schwester wusste ja noch gar nicht, dass es wieder nur sie beide gab. Inas Blick wanderte zu Astrid, die sie schuldbewusst anschaute und ganz leicht mit ihren Schultern zuckte. Okay, es war ja auch nicht ihre Aufgabe das zu übernehmen. Nein, Ina musste das ihrer Schwester schon selbst beibringen. Das war ihr Job. „Wir haben Ilse schon nach Hause geschickt. Morgen fährt sie doch zu ihren Enkelkindern und da dachte ich, sie kann die Zeit noch gebrauchen." „Ja, Frau Senger hat sich voll gefreut. Ich habe ihr auch den Umschlag gegeben, der auf dem Sekretär mit ihrem Namen lag." Ina atmete auf, dass sie wenigstens schon eine kleine finanzielle Weihnachtszuwendung für ihre Haushälterin vorbereitet hatte. Und scheinbar war auch Astrids Ablenkungstaktik aufgegangen. „Na dann lasst uns mal die Nudelsauce probieren", stieg auch Thomas zwinkernd mit ein. „Ich hoffe doch, es gibt auch noch Nudeln zu der Sauce." Natascha fing an zu kichern. „ Nein, natürlich nicht. Heute gibt es nur Sauce." Sie schlug sich mit der Hand vor die Stirn und schaute zu Astrid. „Die beiden denken wohl, wir wären dumm. Natürlich gibt es Nudeln. Es gibt sogar Spaghetti." „Prima, ich habe totalen Kohldampf." Thomas legte diesmal seinen Arm um Nataschas Schulter und schob sie in Richtung Küche. Astrid blieb bei Ina stehen und strich ihr sanft über ihren Arm. „Linus hat sich hier noch nicht gemeldet. Hat er im Büro angerufen?" Ina schüttelte bedrückt den Kopf. Wie sollte sie denn Astrid in die Augen schauen können? Linus war schließlich nur ihretwegen verschwunden und nicht wegen seiner Eltern. Aber sie mussten diese Ungewissheit mit ausbaden. „Was ist mit Linus?", ertönte hinter ihr die schrille Stimme ihrer Schwester. „Er ist weg!", kam es Ina über die Lippen, ehe sie sich abstoppen konnte. „Weg? Was heißt weg?" Der Blick ihrer Schwester war verständnislos. „Das heißt, er ist nicht mehr da und kommt wohl auch nicht mehr wieder." Was sollte Ina denn anderes sagen? Das traf es jedenfalls so ziemlich genau. Und gleichzeitig fühlte sie sich dabei genauso gefühllos wie ihr Vater. „Kein Mensch verschwindet einfach nur so!" Der wütende Blick ihrer Schwester traf sie, genau wie der ausgestreckte Zeigefinger, der in ihre Brust stach. „Du hast ihn vergrault. Ich hasse dich!" Natascha drehte sich um und rauschte die Treppe hinauf. Dann knallte lautstark eine Zimmertür. „Sie meint das nicht so. Sie beruhigt sich schon wieder." Astrid schaute Natascha immer noch hinterher. „Soll ich mal mit ihr reden?" Ina schüttelte schnell den Kopf. Nein, das war ihr Job. „Sie hat doch recht."  Astrid war in zwei Schritten bei ihr und hielt sie an beiden Oberarmen fest. „Das stimmt nicht. Und das weißt du auch. Ich weiß nicht, was in Linus gefahren ist. Ich weiß, dass er dich liebt." „Was war das denn?" Thomas war aus der Küche gekommen und schaute die Treppe hinauf. „Natascha ist sauer auf mich." Mehr kam Ina nicht über die Lippen. „Diese verfluchten durchgeknallten Teenagerweiber." Thomas schüttelte seinen Kopf. „Wissen die eigentlich nicht, dass Türrahmen auch aus der Wand fallen können? Das war bei Lea und Lydia der gleiche Scheiß." Er kam auf Ina zu und legte seinen Arm um ihre Schulter. „Da hilft nur schmoren lassen. Komm, wir essen jetzt erst mal. Wir haben uns das heute mehr als verdient." So wie er Ina Richtung Küche schob, war jeder Widerspruch zwecklos.

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt