Kapitel 31

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„Mama, Paris war wirklich unglaublich. Ich habe sogar eine der Designerinnen persönlich kennengelernt. Und ich war im Ballett." Ina kniete vor dem Grab ihrer Mutter und zupfte ein paar verblühte Blüten ab. „Ich habe mich sogar von einem der Künstler an der Seine malen lassen." Sie zog das zusammengerollte Bild aus ihrer Handtasche. Genau wie das Foto von ihrer Schwester zusammen mit Mickey Maus. „Schischi, die kleine Verrückte hat wirklich ihren Notfallpass der Mickey Maus gezeigt und Beweisfotos machen lassen." Ina schüttelte schmunzelnd ihren Kopf und legte sowohl ihr gezeichnetes Bild als auch das Foto an den Grabstein. So wie sie das immer machte. Es gab ihr dann das Gefühl, dass ihre Mama doch noch irgendwie da war und an ihren beiden Leben teilnahm. Sie musste schwer schlucken. Ach, was würde sie dafür geben, wenn ihre Mutter noch bei ihnen wäre. Dann wäre so vieles leichter. Mit einem Räuspern erhob sich Ina. „Mama, es ist doch okay, wenn ich mal in deinen alten Modezeitschriften schaue, ob ich einen Artikel mit Genia finde und ihn ihr dann als kleines Dankeschön schenke?" Natürlich kam keine Antwort, aber sie wusste, was ihre Mutter gesagt hätte. „Selbstverständlich kannst du das machen. Und denk immer daran, egal wie klein das Dankeschön ist, es sollte immer von ganzem Herzen kommen." Ja, ihre Mutter war der großzügigste Mensch, den sie kannte... und der liebevollste und selbstloseste. Deshalb war ihre Mutter auch bei allen Leuten so beliebt gewesen. Inas Blick schwenkte einmal über die Gräber in ihrer Umgebung den Weg entlang. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie hier mehrere hundert Leute zur Beerdigung ihrer Mutter gestanden hatten. Alle waren gekommen, um sich von ihr zu verabschieden. Es waren nicht nur Geschäftspartner von ihrem Vater, sondern Eltern ihrer Mitschüler und sogar Lehrer, weil ihre Mutter sich immer im Elternverein engagiert hatte. Und auch viele Nachbarn und Leute von Vereinen, die ihre Mutter unterstützt hatte. In Ina stieg ein schlechtes Gewissen hoch. Bestimmt hätte ihre Mutter erwartet, dass sie ihr Engagement dort fortführte. Das hatte sie aber nicht getan. Nein, sie hatte sich lieber auf die Firma ihres Vaters konzentriert. Vielleicht sollte sie ein paar großzügige Schecks ausstellen, wenn sie das auch für Genias Stiftung machte. Ja, das war eine gute Idee. „Tschüss, Mama. Ich habe dich ganz doll lieb!", verabschiedete sie sich wie immer mit einem Winken vom Grab ihrer Mutter und lief den langen Friedhofsweg entlang....

„Was machst du denn da?" Linus beugte sich zu Ina hinunter, die im Schneidersitz auf dem Boden saß und durch Zeitungen blätterte. Er war von der Sitzung im Denkmalschutzamt gleich nach Hause gefahren und dann durch die Villa geirrt, um Ina vom Ergebnis der Sitzung zu informieren. Schließlich hing von der Genehmigung der Denkmalschützer ab, ob sie wirklich eine energetische Sanierung der Villa vornehmen konnten, so wie sein Vater es ihnen vorgeschlagen hatte. Die Idee war nicht die schlechteste, wenn man bedachte, welche Energiekosten dieser alte Kasten verursachte. Dank Frau Sengers Tipp hatte er Ina hier auf dem Dachboden gefunden. „Ich schaue, ob ich einen alten Artikel von Genia finde. Darüber freut sie sich bestimmt, wenn ich ihn rahmen lasse. Ich habe heute auch Karten für Carmen für uns beide besorgt." Ihr Blick wanderte hoch zu Linus. „Oder hätte ich für dich und Luca auch welche besorgen sollen?" So wie sie feixte, kannte sie die Antwort genau. Zur Sicherheit überkreuzte Linus aber seine beiden Zeigefinger. „Verschone uns damit. Da machen wir lieber wieder einen ordentlichen Männerabend bei Billard und Bier." Ina legte die Zeitschrift, die sie gerade in der Hand gehalten hatte auf einen Stapel und griff von einem anderen Stapel die nächste, in der sie zu blättern begann. Linus Blick fiel zu einem Karton neben ihm. „Was ist denn das alles?" Er schnappte sich ein kleines Heft heraus und hielt es hoch. „Das ist die Kiste mit Mamas Tagebüchern und irgendwelchen Unterlagen. Zeig mal!" Ina ließ die Zeitschrift aus den Händen gleiten und schnappte nach dem Heftchen in seiner Hand. „Wow, das ist ja Mamas Mutterpass!" Inas begann durch das Heftchen zu blättern. Da.....da musste doch auch Mamas Blutgruppe drinstehen, schoss es ihr spontan durch den Kopf. Das hatte sie ja schon fast wieder verdrängt, beziehungsweise vergessen gehabt. Sie begann noch einmal auf der ersten Seite und ließ ihren Blick suchend über das Papier schweifen. Alleine bei dem Lesen des Namens ihrer Mutter schlug ihr Herz etwas schneller. Sie blätterte zur nächsten Seite. Tatsache, da stand die Blutgruppe. „Was hast du denn entdeckt?" Linus spähte über ihre Schulter. „Da....da steht, dass sie Blutgruppe AB hatte. Das kann doch aber gar nicht sein, wenn ich Null habe." Ina schüttelte entschieden den Kopf. Hier musste ein Fehler vorliegen. Linus schnappte ihr das Heft aus der Hand und blätterte weiter. „Die ganzen Eintragungen liegen aber fast zehn Jahre nach deiner Geburt." Ina entriss ihm wieder das Heft und blätterte selbst wie wild durch. „Das....das muss der Mutterpass von Nataschas Geburt sein." Ihr Herz hämmerte wie wild. Ja, klar, das war doch die Lösung. Da lag der Fehler, den sie gesucht hatte. Zwischen ihrer Geburt und Nataschas musste ihre Mutter die Blutgruppe gewechselt haben. Das war die einzige logische Schlussfolgerung. Hatte sie das nicht erst letztens in einem Bericht über einen Leukämiepatienten gelesen? Ja klar, so musste es gewesen sein. Eine andere Möglichkeit bestand ja nicht. Da war nur ein klitzekleiner Haken. Ihre Mutter hatte ihres Wissens nach keine Leukämie gehabt. Wenn, dann hätte sie das doch auch als kleines Kind mitbekommen. Ina begann in dem Karton, der neben ihr stand zu kramen. Wenn hier der Mutterpass für Schischi drin war, dann musste dort doch auch der für sie sein. Der würde das ganze dann mit Sicherheit klären.

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt