Kapitel 28

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Ina saß auf dem Stuhl und ließ ihren Blick durch die große alte Fabrikhalle gleiten. Die Wände machten den Eindruck als hätten sie schon lange keine frische Farbe mehr gesehen. Genaugenommen bräuchten sie erst einmal neuen Putz. Als Leiterin eines Bauunternehmens lief ihr bei dem Anblick der kalte Schauer über den Rücken. Aber bestimmt gab es in Frankreich genau wie in Deutschland eine Aufsichtsbehörde, die sicherstellte, dass die Veranstaltung hier ohne Gefährdung der Zuschauer durchgeführt werden konnte. Sie fragte sich wirklich, wo Genia sie hier hingeschleppt hatte. Würden hier nicht die ganzen Stuhlreihen mit gut gekleideten Leuten besetzt sein und sich sogar eine Meute von Fotografen tummeln, würde Ina daran zweifeln, dass hier wirklich eine Modenschau stattfand. Wahrscheinlich von irgendeinem No name, der sich nichts besseres leisten konnte und die Karten verschenkte, damit überhaupt jemand kam. Aber was hatte sie bei dieser Frau auch erwartet? Sie musste an die Fahrt mit der Metro hierher denken. Und wieder schüttelte es sie, wenn sie an das Gedränge dachte, das dort geherrscht hatte. Trotzdem war es irgendwie.......irgendwie interessant gewesen. Ina hatte direkt an einem Fenster gestanden und die vorbeiziehende Stadt bewundern können. Jedenfalls als sie mit der Hochbahn gefahren waren. In Paris gab es wirklich schöne alte Prunkbauten. Und dann hatte da der Eiffelturm durch die Häuser geblitzt, während die Räder der Metro laut gerattert hatten. Das war ein unglaublicher Anblick. Also der Eifelturm, nicht die Stützräder, die dafür sorgten, dass die Metro nicht von den Schienen sprang. Das war auch etwas, was es so in Deutschland nicht geben würde. Vielleicht hatte man in Frankreich doch eine andere Auffassung, was die Sicherheit anging. Ina ließ ihren Blick noch einmal über die Bauruine einer alten Fabrikhalle gleiten und ihre Zweifel wurden eher größer als kleiner. Laute Musik knallte aus den Lautsprechern und entfernte wahrscheinlich noch den letzten Putz von den Wänden. Im nächsten Moment entrollte sich ein großes Plakat an der Wand. „Was!" Ina konnte es gar nicht fassen. „Das ist die Schau von Louise Grandmenor?" Genia nickte. „Kennst du sie?" Was für eine Frage. Natürlich kannte Ina sie. Wer kannte Louise Grandmenor bitte nicht? Jeder der sich nur ansatzweise mit Mode beschäftigte,y kannte den Namen der neuen aufstrebenden Designerin, die besonders durch ihre einfachen Schnitte in äußerst farbenfrohen Designs bekannt war. Sie war sozusagen die Antwort auf Dolce und Gabana gekreuzt mit Vivien Westwood. „Wie bist du nur an die Karten gekommen?" Ina konnte es echt nicht glauben, dass sie hier saß und sogar direkt an der ellenlangen Papiermalerrolle, die wohl den Laufsteg darstellen sollte. Man musste kein Prophet sein, um zu wissen, dass die Plätze hier mit Sicherheit heißbegehrt waren. Wie auf Kommando betrat das erste Modell den Papierlaufsteg und schritt an ihnen hüftschwingend vorbei. Wow, dieses buntbedruckte Kleid sah total beeindruckend aus. Genau wie die Blusen-Hosenkombination, die gleich folgte. Und so ging es nacheinander weiter. Eine bunte Stoffkreation folgte auf die nächste. Man konnte sich gar nicht sattsehen. Irgendwann erschien dann auch Louise Grandmenor eingerahmt von zwei Models auf dem Laufsteg. Ja, Ina erkannte sie sofort, immerhin hatte es ja schon einige Berichte über sie in der Vogue gegeben, die Ina natürlich abonniert hatte. Lauter Applaus ertönte und die Leute erhoben sich von ihren Sitzen, um weiter zu applaudieren. Ina folgte dem Beispiel begeistert und stand klatschend neben Genia. Ja, so hatte sie sich immer eine Modenschau vorgestellt......nur hätte den Platz neben ihr ihre Mutter inne haben sollen.....und nicht diese Frau. Aber das war jetzt auch egal, davon ließ sie sich ihr Hochgefühl nicht trüben.
„Na, wie hat es dir gefallen?" Genia stand neben Ina und hielt ein Glas Orangensaft in ihrer Hand, während Ina an ihrem Champagnerglas nippte. „Es war der Wahn,....ähm also es war eine echt schöne Schau." Genia sollte nicht auf den Gedanken kommen, dass Ina wegen so ein bisschen Mode gleich ausflippte. Nein, ihr Vater hatte ihr beigebracht, dass sich übersprudelnde Emotionen nicht ziemten und dem Gegenüber einfach zu viel Einblick in das eigene Gefühlsleben gaben, was sich bei Geschäftsverhandlungen durchaus nachteilig auswirken konnte. „Hallo Genia, ma chère amie!" Eine große gutaussehende dunkelhaarige Frau hatte sich zu ihnen gesellt und Ina blieb der Mund offen stehen. Das war Louise Grandmenor. „Deine neue Frisur und die Haarfarbe stehen dir gut. Sie bringen deine blauen Augen zum Leuchten." Die Modedesignerin wuschelte durch Genias kurze Haare. Okay, bei der Frisur stand sowieso alles in alle Richtungen, da konnte man nichts ruinieren. Ina mochte ja lieber einen ordentlichen Haarschnitt, so wie ihren klassischen Bob, den schon ihre Mutter immer so getragen hatte. „Und deine Figur ist auch immer noch perfekt. Möchtest du nicht das nächste Mal für mich laufen?" Ina traute ihren Ohren nicht. „Nee, aus dem Geschäft bin ich raus, aber du kannst gerne etwas für meine Stiftung spenden. Sie heißt Carmen und unterstützt minderjährige ledige Mütter." Wieder traute Ina ihren Ohren nicht. Seit wann leitete Genia eine Stiftung? War sie nicht eigentlich irgendwie Übersetzerin? Und den Job hatte sie doch auch gekündigt, nachdem sie sich Luca an Land gezogen hatte. Eine verheiratete Frau brauchte ihrer Meinung nach ja scheinbar nicht arbeiten. „Natürlich unterstütze ich das, ma chérie." Die Designerin lächelte breit. „Musstest du vorhin auch an unsere alten Zeiten denken? Ich habe förmlich mit den Mädels mitgelitten. Irgendwie ist es doch schön, wenn man wieder normal essen kann." Louise griff nach einem Tablett mit Häppchen, das ein Kellner gerade an ihnen vorbeitrug. „Ja, also mir fehlt das Modeln so überhaupt nicht." Ina schaute Genia überrascht an. „Du hast gemodelt?" „Oh ja, das hat sie, genau wie ich", kam es begeistert von Louise. „Aber wir beide waren nie die wirklich begeisterten und talentiertesten Models." Die Designerin lachte herzlich und Genia stieg mit ein. „Nein, dein Talent liegt eindeutig mehr hinter dem Laufsteg. Und meins suche ich noch." „Ach hör doch auf, du warst immer die talentiertere von uns, die nicht mitten auf dem Laufsteg umgeknickt ist. Du warst das It Girl, um das sich die ganzen Rockstars gerissen haben, damit du sie auf ihre Yacht in den Urlaub begleitest. Ich war nur die kleine Louise, die in ihrer Freizeit an der Nähmaschine gesessen hat." Wie bitte? Ina glaubte sich verhört zu haben. Genia sollte ein It Girl gewesen sein? Nee, das konnte doch absolut nicht sein, so geschmacklos wie diese Frau war.

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt