Kapitel 101

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Genias besorgter Blick klebte auf Ina. Ja, sie machte sich riesige Sorgen um ihre Tochter. Seit dem Vorfall am Zebrastreifen war sie immer noch total blass und leicht abwesend. Okay, das konnte man ihr ja auch nicht verdenken, wenn gerade dort auch ihre Adoptivmutter gestorben war. Aber genau aus dem Grund sorgte sich Genia noch mehr. In den letzten Wochen hatte es so viele Ereignisse und aufwühlende Entdeckungen für Ina gegeben. Da konnte so ein kleiner Vorfall etwas viel größeres auslösen. Und das machte Genia Angst, denn sie war sich nicht sicher, dass Ina diesen Unfall ihrer Mutter je richtig verarbeitet hatte. Wenn sie an Conny dachte, dann hatte er mit Sicherheit nur dafür gesorgt, dass er verdrängt wurde. The Show must go on oder in seinem Fall eher das Geschäft muss laufen, damit der Euro rollte. Da war mit Sicherheit kein Platz für einen trauernden Teenager. Sofort stieg in ihr wieder diese unterdrückte Wut für diesen Scheißkerl auf.
„Herr Doktor Schreiber erwartet Sie schon." Die Sekretärin, oder sagte man Empfangsdame, deutete ihnen mit einer Handbewegung in den Raum zu gehen, in dem sie auch zur Testamentseröffnung nach Connys Tod gesessen hatten. Genia hielt ihrer Tochter die Tür auf und folgte ihr dann in den Raum.
„Ina, ist alles okay bei dir? Du siehst so blass aus." Der Notar war von seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch aufgestanden und umarmte Ina liebevoll. Die Umarmungen fühlten sich immer noch genauso nach Geborgenheit an wie früher, schoss es Ina durch den Kopf und seit dem Zebrastreifen löste sich zum ersten Mal wenigstens eine kleine Schlinge des Knotens, der sich in ihrem Magen breit gemacht hatte. „Sie ist eben fast am Zebrastreifen angefahren worden", übernahm ihre Mutter die Erklärung für sie. „Oh!" Onkel Robert hielt sie auf Armlänge von sich und scannte sie ab. „Alles okay, ich habe mich nur erschrocken", versicherte sie ihm schnell, denn sie hatte genau gespürt, wie er bei dem Wort Zebrastreifen leicht zusammengezuckt war. Zebrastreifen! Das war einer der Gründe, warum sie überhaupt hier war. „Onkel Robert, Mama wollte sich scheiden lassen, weil Papa sie belogen hat. Und du wusstest das. Warum hast du mir das nie erzählt? Genau wie von der Adoption?" Im Gesicht des Notars zuckte es leicht und er ließ sie los.„Ich wusste, dass dieser Tag irgendwann kommen würde." Mit seiner Hand fuhr er sich durch den Nacken. „Lasst uns dort auf das Sofa setzen. Da ist es gemütlicher und nicht so förmlich. Das ganze hat für mich ja auch mehr familiären Hintergrund." Ina und Genia folgten ihm zu der kleinen Sofaecke. „Also, warum hast du mir nie davon erzählt?", hakte Ina nach, kaum dass ihr Hinterteil das Sofa berührte. „Ina, ich konnte dir zum einen nicht davon erzählen, weil...." „Weil Papa es dir verboten hat?" Ina spürte wie Wut in ihr aufstieg. Sie hatte nie das Gefühl gehabt, dass Onkel Robert sich von ihrem Vater einschüchtern ließ. Nein, eigentlich war er immer der einzige, der ihm auch mal widersprach. „Nein!" Der Notar schüttelte seinen Kopf. „Aber ich war auch an die Schweigepflicht gebunden." „Und was ist jetzt anders? Oder willst du immer noch nicht mit mir darüber reden?" Wieder schüttelte ihr gegenüber den Kopf. „Natürlich will ich mit dir darüber reden. Das wollte ich schon die ganze Zeit. Und da du jetzt mit Fragen zu mir gekommen bist, muss ich auch nicht mehr schweigen." Er wirkte fast erleichtert. „Wie konntest du überhaupt noch mit Papa zusammenarbeiten nach allem, was er gemacht hat? Du wusstest doch, dass Mama ihn aus unserem Leben verbannen wollte." „Ja, das wusste ich. Mona konnte ihm dieses Adoptionsgeschäft einfach nicht verzeihen. Ebenso wie die Erpressung und das Hintergehen in der Firma. Sie war einfach die integerste Person, die ich jemals kennenlernen durfte und Constantin war eher das Gegenteil davon. Endlich hatte sie das auch begriffen. Sie wollte einen Schlussstrich ziehen und hatte schon jede Menge Pläne für euch drei gemacht." In seinem Gesicht ging plötzlich eine Wandlung vor sich und er schaute Ina traurig an. „Ich werde nie diesen schrecklichen Tag vergessen. Eigentlich wollten wir den Scheidungsantrag einreichen und dann...." Er zuckte mit den Schultern „Und dann wollten wir die Schlösser in der Villa tauschen lassen und mit euch beiden Mädchen essen gehen." Zum ersten Mal fiel Ina dieser Blick von ihm auf und in ihrem Kopf echote der Satz „Endlich hatte sie das auch begriffen."  „Heißt das, dass du Papa nie wirklich vertraut hast?" Ein Schnauber entfuhr ihrem Gegenüber. „Es war nicht schwer zu bemerken, mit welchen Wassern dein Vater gewaschen war, wenn man keine rosarote Brille auf hatte." Okay, die hatte sie selbst wohl auch viel zu spät abgelegt. Nein, wenn sie ehrlich war, war sie ihr eher von der Nase gerissen worden, sonst würde sie dort wahrscheinlich immer noch sitzen.  „Warum hast du dann überhaupt noch mit ihm zusammen gearbeitet?" Auch wenn ihre Stimme wütend klang, war das eine logische Frage, denn nach dem Tod ihrer Mutter war das ja nicht mehr zwingend notwendig. Seine Kanzlei hatte mit Sicherheit auch so genug Mandanten. „Ich....ich...." Sie sah, wie Onkel Robert schwer schluckte. „Ich habe es deiner Mutter versprochen kurz bevor......bevor sie starb." Wieder schluckte er. „Damals war ich als erster bei ihr, als sie dort auf der Straße lag." Kurz schloss er seine Augen. „Ich habe sie in meinen Armen gehalten bis der Notarzt eintraf. Sie hat aus der Nase und den Ohren geblutet. Ich wusste, dass das kein gutes Zeichen war. Trotzdem hat sie sich noch Worte heraus gequält. Sie hat mir das Versprechen abgenommen, dass ich auf euch aufpasse und Conny im Auge behalte, um einzugreifen, wenn es nötig ist. Wie hätte ich mein Versprechen Mona gegenüber einhalten können, wenn ich die Verbindung abgebrochen hätte? Und wie hätte ich ihm auf die Finger schauen sollen?" Deshalb hatte er damals die Blutflecken auf seinem Hemd. Das wurde Ina erst jetzt klar. „Mona hat euch beide über alles geliebt." Daran hatte Ina keinerlei Zweifel. „Und du hast sie auch geliebt!" Auch das war ihr gerade in diesem Moment klar geworden. Ihr Onkel Robert, Nataschas Patenonkel, hatte ihre Mutter aus tiefstem Herzen geliebt. „Ja, das habe ich seit wir in der Grundschule uns getroffen haben." Wieso war ihr das nie aufgefallen? Vielleicht, weil sie auch durch die Blenderei ihres Vaters blind war. Genau wie ihre Mutter. „Mona war ein ganz besonderer Mensch." Ina nickte. „Ja, das war sie." Sie stand auf und umarmte Onkel Robert, dem genau wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Hätte ihre Mutter ihren Vater nie kennengelernt, würde sie vielleicht noch leben, weil sie nicht über diesen verfluchten Zebrastreifen hätte gehen müssen, um die Scheidung einzureichen. Vielleicht wäre sie dann jetzt glücklich mit ihm verheiratet. Aber andererseits hätte sie sie dann auch nie kennengelernt. Und das war etwas wofür Ina sehr dankbar war, denn es war ihre Mutter gewesen, die ihr die wichtigsten Werte vermittelt hatte. Die Frau, die sogar im Angesicht des Todes noch lieber an sie als an sich selbst gedacht hatte.

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt