Kapitel 54

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Ina war gerade in ihre Schuhe geschlüpft, als es an der Haustür klingelte. Sie schaute auf ihre Uhr. Es war gerade 7 Uhr. Das war dann bestimmt Frau Senger, die ihre Schlüssel vergessen hatte. Na ja, die Jüngste war sie ja auch nicht mehr. Da konnte es schon mal passieren, dass man vergesslich wurde. Ina überlegte kurz. Wie alt war Frau Senger überhaupt? In ihr kam ein unangenehmes Gefühl hoch. Wahrscheinlich hatte sie schon fast das Rentenalter erreicht. Mist, das bedeutete ja, dass sie sich bald nach einer neuen Haushälterin umschauen musste. Das war ein Gedanke, der ihr gar nicht gefiel, denn sie kannte dieses Haus nur mit Frau Senger. Sie war immer da gewesen, wenn Ina oder Natascha sie brauchten, besonders nach dem Tod ihrer Mutter. Man konnte fast sagen, dass sie die Position der Oma einnahm, die sie nie kennengelernt hatte, denn weder die Mutter ihrer Mutter, noch die ihres Vaters hatte sie kennengelernt. Nur an ihren einen Opa konnte sie sich noch erinnern. Er war immer total lustig gewesen und hatte mit ihr herumgealbert. Obwohl wenn sie es recht betrachtete, war er ja gar nicht wirklich ihr Opa, sondern nur der Vater ihrer Adoptivmutter. Mit einem Lächeln im Gesicht riss Ina die Tür auf. „Hallo Frau Sen....." Sie brach ab, denn vor ihr stand nicht ihre Haushälterin, sondern ihre Mu.....ähm Genia. „Ina!" Mit fast flehentlichem Blick sah sie sie an. „Bitte mach die Tür nicht gleich wieder zu. Wir müssen reden. Bitte lass mich dir alles erklären." Auch die Stimme klang verzweifelt. Und das erste Mal hatte Ina das Gefühl, dass  sie wirklich hören wollte, was aus Genias Sicht passiert war.  Sie öffnete die Tür weiter und trat beiseite. „Komm herein. Ich wollte sowieso gerade zu dir." „Wirklich?" Ina hörte die Hoffnung aus der Stimme heraus. Als Antwort nickte sie nur und deutete mit ihrer Hand Richtung Wohnzimmer, ehe sie ihrem Besuch folgte. „Oh ...äh......hallo Genia!" Linus war gerade die Treppe heruntergekommen und schaute überrascht. Sein Blick wanderte zu Ina und er zwinkerte ihr aufmunternd zu. „Dann mache ich mal Kaffee und bringe ihn euch." Genia schüttelte sofort den Kopf und deutete mit ihrem Finger auf ihren Bauch. „Für mich keinen Kaffee. Habt ihr vielleicht auch Orangensaft?" Sie war also um ihr Ungeborenes besorgt und versuchte sich gesund zu ernähren, stellte Ina fest. Ob das damals, als sie mit ihr schwanger war, genauso gewesen war? „Geht klar!" Linus verschwand Richtung Küche und sie setzten ihren Weg ins Wohnzimmer fort....
„Ich möchte, dass du auf alle Fälle weißt, dass ich dich nie weggegeben hätte. Ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt, als ich erfahren habe, dass du in mir heranwächst." Genia spürte wie ihr die Tränen fast in die Augen krochen und schluckte. So sehr sie dieses Gespräch auch herbeigesehnt hatte, so schwer fiel es ihr jetzt. Sie schaute zu Ina, die eigentlich ihre Carmen war und am anderen Ende des riesigen Sofas saß und sie abwartend beobachtete. Verflucht! Das war die schwierigste Situation, in der sie je war und sie hatte schon eine Menge schwieriger Situationen in ihrem Leben durchgemacht. Aber in noch keiner war es so wichtig für sie gewesen, dass sie erfolgreich endete. Sie würde es nicht noch einmal verkraften können, wenn Carmen wieder aus ihrem Leben  verschwand ....jetzt wo sie sie nach den vielen Jahren endlich gefunden hatte. Nein, das konnte sie auf keinen Fall zulassen und trotzdem fehlten ihr irgendwie die Worte. Wo sollte sie am besten anfangen? Genia schloss kurz ihre Augen und atmete einmal tief durch. „Paula hat gesagt, dass deine Mutter mich dir weggenommen hat", drang Carmens leise Stimme an ihr Ohr. „Ja, deine Oma war nicht wirklich der netteste Mensch auf Erden. Für sie war es eine Schande, dass ihre minderjährige Tochter schwanger war. Das war nicht gut für ihr Geschäft. Was sollten denn ihre Geschäftspartner sagen." Ina spürte einen Stich. Auch bei ihrem Vater hatte immer das Geschäft Vorrang gehabt. Und wenn ihre Oma sie nicht gewollt hatte, warum hätte ihre .... Nein, Ina musste diese Gedanken beiseite lassen. „Und ich war ja gerade einmal fünfzehn als ich dich geboren habe. Ich ....." Genia schüttelte ihren Kopf und ihr rollten Tränen über die Wangen. „Ich war total verzweifelt, als ich nach der Geburt wieder aufgewacht bin und du weg warst. Ich habe mir Vorwürfe gemacht, dass ich eingeschlafen bin. Ich hätte auf dich aufpassen müssen." Ina schaute die Frau ihr gegenüber an und zum ersten Mal spürte sie die Verzweiflung, die aus ihr sprach. Genia wischte mit ihrer Hand ungelenk ihre Tränen weg. „Ich habe dann als ich wieder zu Hause war das ganze Haus auf den Kopf gestellt, um nur irgendeinen Hinweis auf dich zu finden, aber diese Frau hatte alles so eingefädelt, dass es nichts zu finden gab. Selbst Jahre später als ich endlich genug Geld hatte, um nach dir zu suchen, bliebst du wie vom Erdboden verschwunden." „Aber du hast doch der Adoption zugestimmt. Und da warst du schon volljährig." Das wusste Ina schließlich aus den Akten. Sie hatte die Unterschrift mit eigenen Augen gesehen. „Das hätte ich niemals getan. Das muss dieser Drache irgendwie fingiert haben." Genias Augen funkelten wütend. „Aber das kann ich dir natürlich nicht beweisen. Ich kann dir nur mein Wort geben, dass ich dich jahrelang mit Privatdetektiven gesucht habe." Okay, das hatte ihr Paula auch erzählt. Genau wie noch etwas anderes.... „Stimmt es, dass du mit Drogen gedealt hast und in die Prostitution abgerutscht bist, damit du Geld für die Suche nach mir zusammenbekommst?" Genia schlug ihre Hände vor das Gesicht und nickte nur, während ihre Schultern zu zucken begannen. Ina wurde bei dem Gedanken ganz übel, dass sich jemand so etwas angetan hatte. Aber das machte man doch wirklich nur, wenn .... wenn einem etwas wirklich sehr wichtig war. Genia nahm die Hände vom Gesicht, über das immer noch Tränen liefen. „Ich weiß, dass das nicht wirklich etwas ist, worauf man stolz sein kann. Aber glaube mir, ich würde es jederzeit wieder tun, nur damit ich dich finden würde, Carmen! Du gehörst doch zu mir und ich liebe dich!" In Ina breitete sich bei diesen Worten ein bisher unbekanntes Gefühl aus und schob alle ihre Bedenken beiseite. Diese Worte konnten nicht gelogen sein. Da war sie sich plötzlich sicher.

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt