Kapitel 76

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„Wow, hier steht aber eine Menge Trödel herum." Genia schaute sich mit gerunzelter Stirn auf dem Dachboden um. Ina zuckte mit den Schultern. „Das sind ganz viele Sachen von meiner Mam......ähm Mona, die Papa nach ihrem Tod hier oben hat hoch schleppen lassen." Ina war es irgendwie blöd vorgekommen ihre Adoptivmutter vor ihrer leiblichen Mutter Mama zu nennen. Insbesondere, wo sie sie ja auch nur Genia nannte. Das fühlte sich irgendwie nicht richtig an, schließlich wollte sie Genia auf keinen Fall verletzen. Dafür war sie für sie in der kurzen Zeit schon viel zu wichtig geworden.  Genia machte einen Schritt auf Ina zu und legte ihren Arm um ihre Schulter. „Pass mal auf, mein Schatz. Du kannst sie ruhig weiter Mama nennen. Sie war nun einmal über viele Jahre deine Mama. Sie war lieb zu dir und hat dich zu einer tollen Frau erzogen. Und dafür bin ich ihr sehr dankbar. Sie kann am allerwenigsten für diesen ganzen Schlamassel. Deshalb hat sie es sich auch verdient weiterhin deine Mama zu sein. Und irgendwann vielleicht siehst du mich auch als deine Mama.....und dann hast du halt zwei von der Sorte." Genia pustete eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. „Ich weiß aber auch, dass die Latte, die sie hinterlassen hat, für mich da ziemlich hoch hängt. Ich war aber schon immer ehrgeizig, wenn mir etwas wirklich wichtig war. Und du bist für mich zusammen mit Espie und dem Gummibärchen da in mir...." Genia deutete mit ihrem Zeigefinger auf ihren Bauch, der sich erst ein bisschen wölbte. „...das Wichtigste überhaupt für mich. Ich hoffe, das weißt du." Ina nickte sofort. Ja, daran gab es für sie überhaupt keine Zweifel mehr. Und irgendwie erleichterte es sie auch, dass Genia ihr es nicht übel nahm, wenn sie ihre andere Mutter weiterhin Mama nannte. Denn sie wollte Genia auf keinen Fall verletzen. Und so unerreichbar hoch hing die Latte gar nicht mehr. Also nicht, weil ihre andere Mama nicht toll war, sondern weil Genia genauso toll war. Ja, sie war zwar ganz anders als ihre Adoptivmutter, aber sie war genauso liebevoll und zuverlässig. Und das war es doch was zählte. „Ich habe dich lieb", platzte es aus Ina heraus und Genia starrte sie an. War das falsch, was sie gesagt hatte? Normalerweise war sie ja nicht so gefühlsbetont und spontan. Überforderte sie sie gerade damit? Oder....Nein, das konnte sie nicht glauben....vielleicht.... „Ich habe dich auch ganz doll lieb" Genia zog sie an sich und ihre Augen glitzerten verdächtig. „Weißt du, wie lange ich mir das gewünscht habe?" Die letzten Worte waren geschluchzt. „Seit deiner Geburt." Genia drückte sie ganz fest an sich und Ina spürte Tränen an ihrer Wange. Das mussten Genias sein. Egal! Sie blieb in dieser innigen Umarmung stehen und genoss sie. Ja, es fühlte sich unheimlich gut an. Genauso gut wie früher bei ihrer anderen Mutter.....ihre andere Mutter....das war ja eigentlich der Grund, warum sie hier überhaupt auf dem Dachboden waren. Sie löste sich vorsichtig aus Genias Umarmung, die sie schmunzelnd anlächelte. „Na wenigstens bin ich hier nicht die einzige Heulsuse." Mit ihrer Hand wischte sie ganz sanft über Inas Wange. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihr auch Tränen gekommen waren. Sie musste schlucken. Normalerweise war sie nie so emotional. Das hatte ihr Vater nämlich nicht gemocht. Ihr Vater hatte ihr nicht nur einmal nach dem Tod ihrer Mutter einen Vortrag gehalten, dass Emotionalität einen nur schwächte. Ihr Vater...sofort war da wieder dieser Klumpen in ihrem Magen, den sie seit gestern Abend mit sich herumtrug. „Wo wollen wir anfangen?" Entschlossen wandte sie sich um und schaute zu den diversen Kartons, die dort standen. „Na, ich würde sagen beim ersten und beim letzten hören wir auf", zwinkerte Genia ihr zu und schnappte sich die Kiste, die ihr am nächsten stand. Sie öffnete den Deckel und griff hinein. „Das sind ja alles alte Modezeitungen." Sie hielt eine in der Hand und begann zu blättern. „Die Kiste habe ich schon durchgesehen. Da ist der Ordner nicht drin." Ina gesellte sich zu ihrer Mutter. „Ich wollte doch schauen, ob ich irgendwo einen Beitrag mit einer Fotostrecke von dir finde", fügte sie schon fast entschuldigend an. Genias überraschter Blick traf sie. „Na ja, als wir aus Paris gekommen sind und ich dort erfahren hatte, dass du ein erfolgreiches Model warst, wollte ich dich als Dankeschön damit überraschen. Und dann habe ich aber die Adoptionsunterlagen gefunden." Genia schloss kurz ihre Augen und schüttelte leicht den Kopf. „Ich hätte niemals geglaubt, dass ausgerechnet diese idiotische Zeit dich zu mir zurückbringt." Sie ließ die Zeitschrift wieder in den Karton plumpsen. „Dann lass uns den nächsten Karton durchforsten. Sie machte einen Schritt zur Seite und öffnete die nächste Kiste. Ina folgte ihrem Beispiel und schnappte sich die daneben. „Was haben wir denn da?" In Genias Hand war eine Dokumentenmappe aufgetaucht. Sollte das vielleicht der Ordner sein, von dem ihre Mutter geschrieben hatte? Ina spürte, wie ihr Herz schneller schlug als Genia sie öffnete und einige Blätter herauszog „Wow, sind die Bilder von dir?" Mist, das war nicht der gesuchte Ordner mit den Unterlagen, sondern nur eine Mappe, in der ihre Mutter alte Kinderzeichnungen von ihr aufgehoben hatte. „Ja, die habe ich damals gemalt als ich noch kleiner war. Da wollte ich immer Architektin oder Designerin werden." Ina blätterte die Zeichnungen durch, auf denen meist Häuser, manchmal aber auch Kleider zu sehen waren. „Und warum bist du es dann nicht geworden? Du kannst gut zeichnen, wie es aussieht. Und du hast Ideen." Genias fragender Blick ruhte auf ihr. Ja, warum war sie es nicht geworden? Die Antwort war eigentlich ganz einfach. „Wegen der Firma." Scheinbar war die Antwort für ihre Mutter nicht zufriedenstellend, denn sie krauste ihre Stirn. „Aber das eine schließt doch das andere nicht aus. Braucht eine Baufirma keinen Architekten?" „Du sagst es, einen Architekten und keine Architektin. Mein Vater war nie so wirklich angetan von Frauen im Geschäftsleben. In seinen Augen haben Frauen nur ihren Männern den Rücken zu stärken und freizuhalten." Genia schnaubte verächtlich. „Wieso? Wenn die Kerle doch so toll sind, dann können sie sich ja den Rücken selbst freihalten und stärken." So hatte Ina das noch nie gesehen. Sie hatte immer nur versucht sich im Schatten ihres Vaters ihre eigenen kleinen Wirkungsfelder zu schaffen. „Darf ich mir ein paar der Zeichnungen mitnehmen? Ich habe nämlich auch so eine Mappe für Espie und hätte auch gerne eine von dir." Ein super gutes Gefühl durchfuhr Ina. Genia machte keinerlei Unterschied zwischen ihrer kleinen Schwester und ihr. Und sie hatte sogar Interesse an ihrer Vergangenheit. „Du kannst gerne die ganze Mappe haben, wenn du möchtest." Ungestüm drückte Genia ihr einen Kuss auf die Wange und presste die Mappe an ihre Brust. „Und ob ich das möchte. Das ist ab sofort einer meiner größten Schätze."

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt