Kapitel 34

196 37 11
                                    


Linus parkte das Auto auf dem Parkplatz vor der Seniorenresidenz. Noch bevor er den Motor abgestellt hatte, riss Ina schon die Beifahrertür auf und sprang aus dem Auto. Sie lief so schnell sie ihre Füße trugen zum Eingang und gleich weiter zum Fahrstuhl. Ihre Hand knallte sie auf den Knopf und begann mit der Fußspitze zu tippen. Verflucht, wie lange dauerte es, bis dieser blöde Fahrstuhl kam? Dieses Haus hatte nur vier Etagen und nicht zehn. Genau! Und das Zimmer ihres Vaters lag in der dritten Etage. Sie drehte sich kurz einmal im Kreis, um sich einen Überblick zu verschaffen. Irgendwo mussten hier doch auch Treppen sein. Bis jetzt hatte sie die noch nie benutzt, aber ehe sie hier noch ewig auf den Fahrstuhl wartete und fast verrückt wurde. Ina entdeckte im hintersten Bereich der Eingangshalle eine Tür mit diesem berühmten grünen Zeichen für Fluchtweg. Da musste eine Treppe sein. Gerade als sie ihren ersten Schritt Richtung Treppe machen wollte, ertönte hinter ihr ein lautes Bing, das den Fahrstuhl ankündigte. Okay, dann halt Fahrstuhl. Sowie sich die Türen geöffnet hatten, trat sie in die Kabine und hämmerte auf den Knopf mit der drei. Glücklicherweise begannen die Türen sich sofort zu schließen, um dann keine Sekunde später sich wieder zu öffnen, nachdem ein Arm zwischen ihnen aufgetaucht war. Ein Arm, den sie sehr gut kannte. Linus Arm. Ihr Freund sprang förmlich in die Fahrstuhlkabine, als sie schon wieder auf die Drei hämmerte. Wieder schlossen sich die Türen und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. „Pepincito, komm mal her. Du zitterst ja." Wie sie zitterte? Das war ihr noch gar nicht aufgefallen. Aber Linus hatte recht. Ihr ganzer Körper zitterte vor Anspannung. Ina ließ es sich gefallen von ihm in seine Arme gezogen zu werden. Seine Nähe und die Wärme, die sein Körper abstrahlte, beruhigte sie.  Nein, beruhigen war nicht der richtige Ausdruck. Seine Anwesenheit alleine schon, gab ihr die Sicherheit, die sie brauchte, um etwas ruhiger zu werden. „Was ist, wenn ich wirklich adoptiert bin?", brach es aus ihr heraus. Diese Frage alleine hörte sich für sie immer noch total unsinnig an. Sie konnte doch nicht adoptiert sein. Ihre Mutter hatte sie bis zu ihrem Tod heiß und innig geliebt. Da gab es keinen Unterschied zu der Liebe zu Natascha. Und die war garantiert nicht adoptiert, denn Ina konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie damals ihre kleine Hand auf den dicken Kugelbauch ihrer Mutter gelegt hatte, um die Tritte ihrer kleinen Schwester zu spüren. Nein, ihre Mama hatte ihre beiden Töchter immer gleich geliebt. Das stand völlig außer Frage und das wäre doch im Falle einer Adoption völlig anders. Da würde eine Mutter doch ihr leibliches Kind immer vorziehen. Man musste ja nur an Aschenputtel denken. Okay, da war es das Stiefkind und nicht das adoptierte, aber das machte ja keinen großen Unterschied. In ihrem Kopf tauchte die Stimme ihrer Mutter auf. „Ich bin so stolz auf meine beiden Töchter." Wie oft hatte sie das gesagt? Sehr oft. Es war einer der Lieblingssätze ihrer Mutter. „Dann bist du der gleiche Mensch, der du warst, bevor du es wusstest. Es wird sich deshalb nichts ändern." Ina schüttelte kurz an der Brust von Linus ihren Kopf. Alles würde sich ändern. Sie wäre nicht mehr die, die sie glaubte zu sein. Sie wäre plötzlich ein Niemand. Jemand, den eigentlich niemand haben wollte bis die Frau, von der sie dachte, dass sie ihre Mutter wäre, sich ihrer angenommen hatte wie einem reudigen Straßenköter. Ina musste schlucken, um die Tränen zu verdrängen, die in ihr aufstiegen. Ja, sie musste sie herunterschlucken. Bei einer war es ihr nicht geglückt. Linus schaute auf das Gesicht seiner Freundin. Er musste kein Psychologe sein, um ihren Gemütszustand darin abzulesen. Ina war verwirrt und verzweifelt. Auf ihrer Wange spiegelte sich eine einzelne Träne. Linus fuhr ihr mit seinem Daumen sanft darüber und wischte die Träne weg. Ihm tat es im Herzen weh, Ina so zu sehen. Er würde alles ihm mögliche in Bewegung setzen, damit es ihr wieder besser ging. Und wenn es bedeutete, dass er den schwerkranken Mann dort drei Etagen über ihnen in die Mangel nehmen musste, dann würde er auch das tun. Ob es viel bringen würde, war er sich nicht sicher, denn die paarmal, die er Ina zu ihrem Vater begleitet hatte, hatten bei ihm eher den Eindruck erweckt, vor einer lebenden Hülle zu stehen. Linus war sich nicht sicher, dass Inas Vater ihr die gewünschte Auskunft geben konnte, selbst wenn er es wollte. Die Ärzte hatten schließlich nicht damit hinter dem Berg gehalten, dass sein Gehirn durch den Sauerstoffmangel in Folge seines Herzinfarkts geschädigt war. Mit einem lauten Rauschen fuhren die Fahrstuhltüren vor ihnen auseinander und Ina, die immer noch dicht an ihn gedrängt stand, fuhr erschrocken zusammen. Gleichzeitig war es aber auch wohl der Weckruf für sie, denn sie löste sich von ihm und drehte sich herum. Sie straffte ihre Schultern und hob ihr Kinn. Ja, so kannte er seine Pepincito. Tapfer und stolz. Nichts konnte sie unterkriegen. Das hatte er immer an ihr bewundert. Doch heute machte es ihm Angst, denn er wusste, dass es nur Fassade war, hinter der sie sich versteckte. Mit festen Schritten lief sie los und er folgte ihr.  „Hallo, Frau Preetz", grüßte sie eine Pflegerin auf dem Gang. „Hallo", grüßte Ina zurück und versuchte sich an einem freundlichen Lächeln, das wahrscheinlich wie eine Grimasse aussah. Sie hatte das Gefühl, dass es ihr nicht wirklich gelingen wollte zu lächeln. Ohne sich weiter ablenken zu lassen, setzte sie ihren Weg fort. Es tat gut, dass sie Linus hinter sich wusste. Seine Nähe hatte ihr im Fahrstuhl die Kraft gegeben, gleich ihrem Vater gegenüber zu treten. Vor seiner Zimmertür atmete sie noch einmal tief durch, ehe sie die Türklinke ohne zu klopfen herunterdrückte. Ja, ohne Klopfen. Der Raum für solche Höflichkeiten war heute bei ihr beschränkt.

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt