Kapitel 48

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Linus trug die dampfende Tasse Tee die Treppe hinauf in Richtung Schlafzimmer. Ja, nach dem Zusammenstoß mit Genia, hatte er sich Ina geschnappt und war mit ihr nach Hause gefahren. Dort hatte er sie dann ins Bett manövriert und war in die Küche gegangen. „Ein ordentlicher Friesentee mit Kluntjes löst jedes Problem", hörte er die Stimme seiner Mutter im Geiste.  Das hoffte er auch, obwohl ihm noch nicht ganz klar war, was wirklich vorgefallen war. Nein, das stimmte so nicht. Auch der Ahnungsloseste hätte wohl verstanden, dass Genia Inas leibliche Mutter sein musste. Trotzdem schwirrten da so einige Fragen zu in seinem Kopf herum. Es war sich nur nicht sicher, ob jetzt schon der richtige Moment zu fragen war. Als er ins Schlafzimmer eintrat, lag Ina zusammengerollt im Bett. Scheinbar hatte sie ihn aber kommen gehört, denn sie riss ihren Kopf hoch und wischte sich schnell mit der Hand durch das Gesicht. Als ob er die Tränen dort nicht gesehen hätte. Schließlich sah sie wie ein kleiner Waschbär um die Augen aus. Er wusste aber auch, dass Ina von ihrem Vater so erzogen worden war, dass man seine Gefühle nicht zeigte. Was er davon hielt, war kein Geheimnis, denn er war ein Mensch, der seine Gefühle eher auf der Zunge trug. Bis auf einige Ausnahmen. Das war aber auch nur zum Schutz von Ina. Schließlich lastete gerade genug auf ihr. Da musste er ihr nicht auch noch mit seiner Unzufriedenheit auf die Nerven gehen. „Ich habe dir eine Tee gekocht." Linus reichte ihr die Tasse. „Der duftet gut." Ina nahm sofort einen Schluck und das Getränk wärmte sie innerlich. Ja, da konnte sie Wärme gebrauchen, denn seit heute morgen als sie im Jugendamt in ihre Adoptionsakte geschaut hatte, fühlte sie sich innerlich wie erfroren. Sie konnte den Augenblick einfach nicht vergessen in dem Sie den Namen Bärbel Genia Schulz gelesen hatte. Ja, den Namen kannte sie genau, denn sie hatte ihn ja erst vor ein paar Wochen bei der Hochzeit von dem Pfarrer gehört, der diese Frau mit Luca getraut hatte. Und auch das Geburtsdatum passte. Da musste sie nur kurz ihren Kalender für bemühen, um das zu verifizieren. Schließlich war sie ja auch bei der Geburtstagsfeier zu Gast gewesen, genau wie heute bei Espie. Espie war ihre kleine Halbschwester. Unglaublich. Dann gab es da jetzt nicht nur Natascha, sondern auch die Kleine. Und bald noch ein Halbgeschwisterchen mehr. Das waren zwei Kinder, die ihr vorgezogen wurden. Warum? Was war an ihr, dass diese Frau sie nicht wollte und die anderen beiden schon? Klar, Espie war eine ganz süße Kleine. Ina hatte sie vom ersten Moment an gemocht. Genau wie Natascha damals, als ihre Mutter mit ihr aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war. Lag das vielleicht wirklich in der Natur, dass man seine Geschwister mochte, sogar wenn man nicht wusste, dass man verwandt war? Espie hatte genauso blonde Haare wie sie. Ina stellte die Tasse Tee ab und sprang auf. Sie rannte die Stufen hinunter ins Wohnzimmer und riss die Tür von der alten Kommode auf, in der die ganzen Fotoalben aufbewahrt wurden. Sie streifte kurz mit dem Finger an den Buchrücken entlang, ehe sie das Fotoalbum fand, das sie suchte. Vorsichtig zog sie es heraus und schlug es auf. Linus ließ sich neben sie auf den Boden gleiten. „Was suchst du?" Er legte seinen Arm um ihre Schulter, um sie etwas zu beruhigen, denn sie erschien ihm schon wieder total aufgeregt, so hektisch wie sie in dem Album blätterte. „Da, schau nur." Ina tippte mit ihrem Finger auf ein Foto mit einem kleinen blonden Mädchen, das neben einer großen Geburtstagstorte mit einer drei darauf stand und glücklich strahlte. „Das bin ich an meinem dritten Geburtstag. Siehst du das? Ich sehe genauso aus wie Espie heute." Ja, da hatte Ina recht. Wenn er es nicht wüsste und an der Kleidung festmachen könnte, dass diese Bild wohl schon ein paar Jahre älter war, könnte es wirklich heute beim Geburtstag der kleinen Espie entstanden sein. Die Ähnlichkeit war absolut verblüffend. Vielleicht war es doch der richtige Moment mit Ina über alles zu sprechen. „Also ist Genia wirklich deine Mutter?" Ina starrte ihn aus funkelnden Augen an. „Nenn sie nie wieder so. Sie ist nicht meine Mutter und das wird sie auch nie sein. Sie ist nur die Frau, die mich auf die Welt gebracht und mich dann verstoßen hat." Linus konnte sich das überhaupt nicht vorstellen, denn so liebevoll wie Genia mit Espie umging und sich jetzt auf das Baby freute, passte das doch überhaupt nicht. Wieso sollte sie damals ihr Baby weggeben haben? Linus überschlug kurz das Alter. „Sie muss ja damals noch minderjährig gewesen sein." Ina funkelte ihn wieder an. „Na und? Das spielt doch keine Rolle. Wenn sie mit meinem Vater in die Kiste steigen konnte, dann sollte sie wohl auch alt genug gewesen sein, um sich der Verantwortung zu stellen." Da hatte Ina wirklich kein Verständnis für. Ihr Vater hatte doch auch die Verantwortung getragen. „Willst du nicht einmal mit ihr darüber reden, welche Beweggründe sie hatte, dich zur Adoption frei zu geben?"Das war so typisch für Linus, sich erst einmal alle Seiten anzuhören. Aber das brauchte sie nicht. Ihr Urteil stand schon fest. Ina schüttelte entschlossen den Kopf. „Nein, mit dieser Frau rede ich überhaupt kein Wort mehr in meinem ganzen Leben." Nein, das würde sie garantiert nicht. Warum sollte sie ihr noch ein einziges Mal die Chance geben sie wieder zu verletzen? Nein das konnte sie vergessen. Jetzt würde sie den Spieß umdrehen und diese Frau genauso aus ihrem Leben verbannen, wie sie es damals nach ihrer Geburt getan hatte. Sollte sie doch am eigenen Leib spüren, wie sich das anfühlte, wenn man nicht gewollt war.

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt