Kapitel 79

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„Du kannst mitkommen, wir gehen zu deinem Vater und hinterher wird der Doktor mit dir reden." Genia reichte Ina ihre Hand und half ihr vom Stuhl auf. Lucas Plan hatte wirklich funktioniert. Sie hatten diesen Doktor Großkreutz wirklich im Schwesternzimmer mit einer Tasse Kaffee in der Hand aufgegabelt. Es hatte Luca und sie nicht einmal viel Überzeugungskraft gekostet, damit Ina zu ihrem Vater durfte. Der Arzt schien wirklich einer von denen zu sein, die entweder noch keinen Halbgötterstatus erlangt hatten oder nicht an ihm interessiert waren, denn er hatte sehr menschlich und patientenorientiert gewirkt. Okay, einen kleinen komischen Moment hatte es schon gegeben, als Luca sie als seine Frau vorgestellt hatte und anstelle einer Gratulation eine Art Entschuldigung gepaart mit Unverständnis für Leonies damalige Entscheidung bekommen hatte. So wie es aussah, war sie mittlerweile in Argentinien bei irgendeinem Gaucho sesshaft geworden. Aber das war ja auch egal. Wichtig war ja nur, dass jeder seinen Weg gefunden hatte. Und Genia war sich mehr als sicher, dass Luca seiner Ex keine Träne mehr nachweinte und das Ganze für ihn abgehakt und Vergangenheit war. „Oder möchtest du lieber Ina begleiten?", wandte Genia sich an Linus. Er sah irgendwie ziemlich geschafft und blass um die Nase aus, als er sofort seinen Kopf schüttelte. Okay, er hatte mit Sicherheit einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich und machte sich mit Sicherheit genauso Sorgen um Ina, wie sie das alles verkraften würde, wie sie es tat. „Dann geht ihr beide hoch auf die Station. Wir kommen gleich nach. Ist das okay?", schlug Luca vor. Wahrscheinlich hatte nur Genia sein leichtes Kopfnicken auf Linus mitbekommen. „Alles klar. Es dürfen ja sowieso nur zwei zu ihm." Sie nahm Ina am Arm und dirigierte sie in Richtung Fahrstuhl. Ihre Tochter war wie paralysiert. Beruhigend strich sie ihr über den Arm. „Er wird das mit Sicherheit überstehen. Der Arzt sah ziemlich zuversichtlich aus und er kennt ihn doch schon vom letzten Mal." Ina nickte und schaute sie hoffnungsvoll an. „Meinst du wirklich, dass er es schafft?" Was sollte Genia dazu sagen? Wenn sie ehrlich war, wünschte sie Conny alleine schon für das, was er Ina und ihr angetan hatte zum Teufel.....und das mit so viel Qualen wie möglich. Aber Ina war auch ihre Tochter, die sie liebte und die einfach schon viel zu viel mitgemacht hatte. Conny war ihr Vater und sie liebte ihn, wie eine Tochter es tat. Egal, was er anstellte. Genia war sich nicht sicher, wie Ina einen erneuten Schicksalsschlag verkraften würde. Deshalb hoffte sie, dass er sich wieder berappeln würde und der Infarkt nicht so schlimm war. Egal, was kam. Diesmal musste Ina das auf keinen Fall alleine durchstehen. Jetzt war sie ja da, um sie zu unterstützen und für ihre Tochter da zu sein. „Na, klar", antwortete sie also so zuversichtlich wie möglich.
Zehn Minuten später wurde Genias Zuversicht auf die Probe gestellt als sie das Zimmer von Conny betraten. Überall piepsten irgendwelche Geräte und zeigten irgendwelche Werte und Kurven an. Sie blickte abwechselnd darauf, konnte aber nicht sehr viel damit anfangen. Vielleicht sollte sie nachher gleich einmal Max, den Mann von ihrer Freundin Leokardia anrufen. Schließlich hatte er Medizin studiert und arbeitete jetzt im Krankenhaus in Dortmund. Er konnte ihr mit Sicherheit erklären, was diese ganzen Piepsdinger zu bedeuten hatten. „Papa!" Ina lief schnellen Schrittes zu ihrem Vater und griff vorsichtig nach seiner Hand, in der eine Kanüle - oder wie man diese fiesen Dinger nannte - steckte, über die irgendeine Infusion in seinen Körper lief. „Papa!", schluchzte Ina erneut. Genia stellte sich hinter sie und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. Ihre Tochter sollte wissen, dass sie hier nicht alleine war. Eines der Geräte fing schneller zu piepsen an. Ob das gut war? Genia war sich nicht sicher. Constantins Augenlider fingen an zu flattern, ehe er sie langsam öffnete. Man sah, dass ihn das viel Kraft kostete. „I...I....", krächzte er. „Papa, ja ich bin da. Du musst doch nicht sprechen. Das strengt dich gerade viel zu sehr an." Genia atmete erleichtert auf. Denn zum einen wirkte Ina nicht mehr so paralysiert und zum anderen hatte sie befürchtet, dass Constantin ins Koma gefallen war. So wie er da gelegen hatte, sah es aus, als hätte er nicht einen Hauch Leben mehr in sich. „Möchtest du etwas trinken?" Genia hatte zwar keine Ahnung, ob er das durfte, aber Wasser hatte ja eigentlich noch niemandem geschadet. Sie bekam ein Nicken als Antwort. „Dann gehe ich mal die Schwestern erschrecken und hole was." Genia hatte sich extra bemüht ihrer Stimme einen fröhlichen Klang zu geben. So ein Krankenzimmer war schon trist genug. Sie machte sich auf den Weg, um eine Schnabeltasse aufzutreiben.
Als die Tür hinter ihrer Mutter ins Schloss gefallen war, wandte Ina wieder ihre ganze Aufmerksamkeit ihrem Vater zu. „Papa, es wird alles wieder gut. Da bin ich mir ganz sicher. Bald kommst du wieder aus dem Krankenhaus. Das hat Mama auch gesagt." Ina war sich sicher, dass das wichtigste in seinem Zustand Zuversicht und Hoffnung war. Sie dachte kurz an den Vertrag. Nein, der war völlig unwichtig. Wenn ihr Vater nur wieder gesund wurde. „Ma...Mama?", krächzte ihr Vater und schaute sie mit großen Augen an. „Ja, ähm...Genia ist doch.....meine Mama." Das wusste er doch ganz genau. Oder hatte sein Gehirn bei dem erneuten Herzinfarkt wieder Schaden genommen? Ina sah, wie er seinen Kopf angestrengt bewegte. Das sollte dann wohl ein Nicken sein. „I...Ina...i...ich..." „Papa, du musst doch jetzt nicht sprechen. Ruh dich lieber aus, damit du schnell wieder hier raus kannst." Diese Anstrengung die ihn das Sprechen kostete, tat Ina in der Seele weh. Ihr Vater war immer ein sehr gewandter Redner gewesen, den sie bewundert hatte.....und jetzt brachte er nicht einmal ein zusammenhängendes Wort heraus. „ha....habe....di..ich...li...eb." Er hatte sich nicht abhalten lassen. Ina spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Wann hatte ihr Vater das zum letzten Mal zu ihr gesagt? Sie konnte sich nicht erinnern. Und seit der Sache mit der Adoption hatte sie ihn nur sehr selten noch im Pflegeheim besucht. Es war als wäre zwischen ihnen eine Mauer hoch gewachsen, die gerade in diesem Moment in sich zusammenfiel. „Papa, ich habe dich auch ganz doll lieb." Ina hatte sich über ihn gebeugt und mit ihrer Hand über sein faltiges Gesicht gestrichen. Unter ihrer Hand spürte sie Feuchtigkeit. Auch ihrem Vater waren ein paar Tränen aus den Augen gequollen. Das war....sie hatte ihn noch nie weinen gesehen.....nicht einmal als ihre Mutter gestorben war. Für sie war das aus dem Mund ihres Vaters wie eine Entschuldigung.

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt