Kapitel 107

174 35 12
                                    


Linus lief über den Autobahnrastplatz. Er hatte seinen alten Rucksack geschultert. Damals hatte er genau an diesem Rastplatz Luca getroffen. Dieses Glück würde er diesmal nicht haben. Luca! Was würde sein Kumpel wohl zu seinem Verschwinden sagen? Vielleicht hätte er vorher mit ihm darüber sprechen sollen. Nein, das wäre unmöglich gewesen, immerhin war er jetzt nicht mehr nur sein Kumpel, sondern auch Inas Stiefvater. Mit Sicherheit hätte er versucht ihn davon abzuhalten und ihm erklärt, dass eine Flucht nie half. Das sah Linus aber anders. Er musste aus Düsseldorf weg. Und zwar sofort. Er hatte seine alten Klamotten aus dem Schrank gezerrt und in seinen alten Rucksack gestopft. Alles war in der hintersten Ecke hinter den ganzen Business Anzügen versteckt gewesen. Sein Blick war auf sein Spiegelbild in dem großen Schrankspiegel gefallen. Und was er dort gesehen hatte, hatte ihm überhaupt nicht gefallen. Dort hatte er einen aalglatten, kalten Geschäftsmann gesehen, dem es nur um das Geschäft und nicht um seine Angestellten ging. Einen Menschen, der nur die Firmenbilanz vor Augen hatte und sich über den mangelnden Einsatz seiner Leute aufspulte. Ja, er hatte sich heute Morgen nur darüber geärgert, dass der Bauleiter wissentlich zu spät kam und dann auch noch ständig an seinem Handy getextet hatte. Linus war nicht auf die Idee gekommen das zu hinterfragen. Hätte es etwas geändert, wenn er gewusst hätte, dass der Bauleiter alleinerziehend war? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Dabei hätte er Verständnis haben müssen. Er kannte es doch selbst. Wie oft hatte er sich schon verspätet, wenn er Natascha zur Schule gefahren hatte, weil sie so lange getrödelt hatte. 
Linus Blick fiel zu den LKWs, die dort auf dem Rastplatz nebeneinander parkten. Er scannte die Kennzeichen ab. Eins sprang ihm sofort ins Auge und er schlug die Richtung zu dem LKW ein. Vielleicht hatte er ja Glück und wurde mitgenommen. Das Schicksal schien es gut mit ihm zu meinen, denn der Fahrer war gerade im Begriff in seine Fahrerkabine zu klettern. „Hola!", begrüßte ihn Linus freundlich und erntete ein begeistertes Lächeln. „Qué tal?" Okay, das war erst einmal ein Anfang. Linus kramte in seinem Gehirn nach seinem alten spanischen Wortschatz, der in letzter Zeit ziemlich unter Angeboten, Verträgen und Bilanzen verstaubt war. „Mir geht es gut. Wohin geht deine Fahrt?" Ja, sein Wortschatz war wohl noch ausreichend genug, um ein noch breiteres Lächeln in das Gesicht des spanischen Lkw Fahrers zu zaubern. „Nach Barcelona", kam die prompte Antwort. „Hättest du etwas gegen einen Beifahrer?", machte Linus sofort einen Vorstoß.  „Natürlich nicht. Die Fahrt ist langweilig genug, da kann ein wenig Unterhaltung nicht schaden." Ja, das passte zu einem Spanier. Nichts war für Spanier schlimmer als Ruhe. „Na los, dann steig ein." Der Fahrer deutete zur Beifahrerseite und Linus ließ sich nicht lange bitten. Das war perfekt. Er schmiss seinen Rucksack auf den Sitz und kletterte hinterher. Ruckelnd setzte sich der LKW in Bewegung. Aus dem Radio knallte laut spanische Musik. Linus Finger fingen an den Takt auf seinem Schenkel mit zu klopfen. Bei spanischer Musik konnte man einfach nicht anders. „Ich heiße Cristian. Und wie heißt du, Amigo? Und von wo kommst du?" Das war so typisch Spanisch. Diese freundliche Offenheit war auch etwas, was Linus in Deutschland vermisst hatte. Das wurde ihm in diesem Moment klar. Schnell beantwortete er die Fragen und stellte zufrieden fest, dass sein Spanisch doch gar nicht so eingerostet war, wie er gedacht hatte. „Wie kommt es, dass du per Anhalter unterwegs bist? Du siehst.....wie soll ich es sagen?"Cristian flatterte mit der Hand in der Luft herum. „Du siehst nicht wie ein Anhalter aus sondern wie....wie ein Geschäftsmann. Deine Haare sind so ordentlich geschnitten." Okay, das war interessant, dass man so etwas an den Haaren erkannte. Aber Linus musste zugeben, dass er sie früher länger getragen hatte. Mit seiner Hand fuhr er durch sein Haar und verstrubbelte es etwas. „Viel besser!", wurde er vom Fahrersitz angegrinst. „Jetzt siehst du nicht mehr wie mein Chef aus. Also, was treibt dich durch die Welt?" „Dieses beschissene Hamsterrad", platzte es aus Linus heraus und ehe er sich stoppen konnte, waren es immer mehr Worte, die da aus seinem Mund flossen. „Und deshalb musste ich weg aus Düsseldorf und jetzt nach Barcelona", endete er, nachdem er wirklich alles rausgelassen hatte. Irgendwie war es wie ein Damm, der gebrochen war. Es fühlte sich gleich etwas besser an, das jemandem erzählt zu haben. Auch wenn er Cristian nicht kannte. Aber vielleicht war es genau das, was es ihm das erleichtert hatte. Er schaute zu dem Fahrer, dessen Gesicht einen nachdenklichen Eindruck machte. Wahrscheinlich würde er ihn auf dem nächsten Rastplatz hinauswerfen, weil er ihn für einen Psycho hielt. „Das ist schon alles ziemlich heftig", kam es auf einmal aus Cristians Mund. „Ich kann verstehen, dass du da weg wolltest...." Er stockte und drehte sein Gesicht kurz zu ihm. Es sah aus, als musterte er ihn. „Aber hast du auch an deine Freundin gedacht? Sie macht sich doch bestimmt Sorgen, wenn du einfach weg bist. Also meine Frau würde wahrscheinlich durchdrehen und der Alptraum jedes Polizisten, weil sie mich suchen lassen würde." „Ich habe Ina einen Zettel auf ihr Kopfkissen gelegt, damit sie weiß, dass mir nichts passiert ist." „Warum rufst du sie nicht an und sagst es ihr persönlich?" Ja, warum? Da gab es eine ganz einfache Antwort: Weil er zu feige war. Linus wusste genau, dass er es nicht fertig bringen würde diesen Weg zu gehen, wenn Ina ihn anbetteln würde, zurückzukommen. Obwohl, würde sie das überhaupt? Oder wäre sie dazu zu stolz? Linus wusste es nicht. Er wusste nur, dass er erst einmal eine gewisse Zeit für sich brauchte. Er würde in Barcelona wieder genau da starten, wo er damals gestartet war. Bestimmt bekam er auch wieder einen Job in der Bar. Und dann konnte er sich erst einmal wieder erden. Wenn das funktionierte, konnte er sich ja bei Ina melden. Vielleicht konnten sie dann ja auch noch einmal ganz neu starten. Jetzt brauchte er aber erst einmal seine Freiheit, um seinen Kopf frei zu bekommen und die Albträume los zu werden.

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt