Kapitel 61

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„Da seid ihr ja endlich!" Linus Mutter schwirrte von einem zum anderen, um sie zur Begrüßung zu umarmen. Nur Natascha ließ sie nicht so schnell wieder los. „Na, meene Lütte. Bist du schon wieder gewachsen, seit wir dich das letzte Mal gesehen haben?" Linus schüttelte innerlich den Kopf. Wohl nicht. Schließlich war das ja erst ein paar Wochen her. Seine Mutter übertrieb wie immer maßlos. Aber das war ihre Art. Das kannte er schon von den beiden Kindern seiner ältesten Schwester. Mila und Emma mussten sich auch immer anhören, dass sie schon wieder gewachsen waren und immer hübscher wurden. Selbst als die ersten Milchzähne ausfielen und große Zahnlücken freigaben. Linus überlegte kurz. Wie alt waren die beiden eigentlich? Sie mussten doch auch ungefähr in Nataschas Alter sein. Er begann kurz zu rechnen. Lydia hatte in ihrem letzten Studienjahr geheiratet und sofort ihre erste Tochter bekommen. Okay, dann musste sie damals 25 gewesen sein als Mila geboren war. Da sie fünf Jahre älter als er und seine Zwillingsschwester Lea war, musste seine Nichte jetzt neun sein und Emma, die andere Nichte ein Jahr jünger. Er schüttelte innerlich den Kopf. Was sagte es über ihn aus, dass er erst einmal rechnen musste, um zu wissen, wie alt seine Nichten waren? Es sagte ganz klar, dass er ein beschissener Onkel war. „So, jetzt kommt aber erst einmal mit in die Küche und dann wird ordentlich gegessen. Ich habe auch dein Lieblingsessen gemacht." Seine Mutter hakte sich bei Linus unter und zog ihn mit sich. „Au cool, dann gibt es heute Tiefkühlpizza oder Ravioli aus der Dose", quietschte Natascha begeistert und klatschte in ihre Hände. „Was!" Seine Mutter schüttelte entschieden den Kopf. „So ein Quatsch. Heute gibt es Labskaus." Alleine bei dem Gedanken daran, lief Linus schon das Wasser in seinem Mund zusammen. Trotzdem bezweifelte er stark, dass es auch Ina und Natascha so gehen würde. Labskaus war ja nicht so jedermanns Sache. Dieser Gedanke bestätigte sich, als sie alle am Tisch vor ihrem Teller saßen. „Na, meen Jung, da tropft dir schon der Zahn, was?" Sein Vater griff nach dem Besteck und lächelte ihn an. Kam es Linus nur so vor oder hatten sich auf der Stirn seines Vaters seit ihrem letzten Treffen tiefe Furchen eingegraben? Auch seine Haare wirkten um einiges grauer. Nein, das war doch Quatsch. Wie sollte das denn in der kurzen Zeit passiert sein? „Das sieht aber aus wie schon mal gegessen!" Natascha schaute mit gerümpfter Nase auf ihren Teller und auch Ina sah vorsichtig ausgedrückt, abgeneigt aus. „Du musst das probieren, meene Lütte. Das ist wirklich lecker. Und das ist ein absolutes Hamburger Traditionsessen. Das haben schon immer die alten Seeleute gegessen." Natascha schüttelte ihren Kopf „Nee, Popeye hat immer Spinat gegessen. Aber der sieht genauso ekelig aus." „Schischi!" Ina schaute ihre Schwester warnend an und schob sich die Gabel mit etwas Labskaus in den Mund. Linus musste kein Hellseher sein, um zu wissen, wieviel Überwindung sie das gerade kostete. „Wenn das die Seeleute gegessen haben, ist es ja auch kein Wunder, wenn die immer seekrank geworden sind und über Bord gereiert haben." Natascha war scheinbar nicht zu bremsen. „Da liegst du aber falsch, meen Deern. Das waren nur die, die keins gegessen haben." Linus Mutter nahm die Kritik an ihren Kochkünsten der Kleinen nicht übel. „Mmm, das ist echt lecker." Ina schaute Linus Mutter überrascht an und befüllte ihre Gabel erneut mit Labskaus. Dieses Mal aber mit mehr. „Man darf nicht immer alles nur nach dem Aussehen beurteilen", zwinkerte ihr Linus Vater zu. „Das ist wie bei alten Häusern. Da muss man manchmal auch erst hinter die Fassade schauen." Na das war doch Inas Stichwort. Sie hatte da nicht nur eine Fachfrage und ihr Laptop im Gepäck. Sie hoffte ganz fest darauf, dass Thomas ihr wieder so unter die Arme greifen konnte wie bei seinem Besuch in Düsseldorf. „Wir haben den Antrag für die energetische Sanierung der Villa schon fast fertig. Meinst du, ob du vielleicht irgendwann Zeit hast, da einmal drüber zuschauen, ob wir auch nichts vergessen haben?" Im Gesicht von Linus Vater tauchte sofort ein breites Lächeln auf, das dem seines Sohnes definitiv glich.  „Na klar, mache ich das." Ina wollte zwar nicht ausverschämt wirken, aber vielleicht war es ja auch nicht der falsche Moment auch auf die weiteren Anliegen zusprechen zu kommen. „Und ich hätte da auch so noch ein paar Fragen." Das Grinsen wurde noch breiter. „Na, die anderen Sachen schauen wir uns dann auch noch gleich an." Thomas zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Macht das mal, dann ist dem Kerl wenigstens nicht langweilig." Linus bemerkte den Blick, den sein Vater seiner Mutter zuwarf. Ihm war nur nicht klar, was er zu bedeuten hatte. „Habt ihr denn schon Pläne gemacht, was ihr euch alles anschauen wollt?" Seine Mutter schaute ihn erwartungsvoll an. Linus zuckte mit den Schultern. „Also Natascha will unbedingt ins Wunderland. Ich dachte, dann können wir uns gleichmal die Hafencity und den Hafen anschauen. Vielleicht machen wir auch eine Hafenrundfahrt." „Na, das hört sich doch gut an. Aber wir müssen auch unbedingt noch nach Planten und Bloom", erweiterte seine Mutter. Linus irritierte das wir. „Musst du nicht morgen und Samstag arbeiten?" Am Wochenende hatte seine Mutter eigentlich nie frei, da war ja auch immer am meisten im Supermarkt los, wenn alle ihre Wochenendeinkäufe machten. Er bezweifelte, dass sie da frei bekommen hatte. „Nee, muss ich nicht. Die haben meine Stunden reduziert. Jetzt habe ich mehr Zeit." Linus schaute seine Mutter schockiert an. Also nicht, weil er ihr die mehr Zeit nicht gönnte, aber er wusste auch, dass das mit Sicherheit weniger Geld bedeutete und dass seine Eltern eigentlich jeden Cent brauchten, seit sein Vater nicht mehr Akkord arbeiten konnte. „Ne Thomas, das wird schön, wir waren schon so lange nicht mehr im Wunderland und am Hafen." Sein Vater nickte. „Du kommst auch mit?" Wieder kam ein Nicken. „Ja klar, wer soll denn der Ina sonst fachmännisch erklären, was die da für einen Murks an der Elphi gemacht haben." Okay, jetzt war Linus endgültig verwirrt. Sein Vater musste morgen garantiert arbeiten und bekam nicht einfach frei. Er war sowieso der letzte, der sich mal eben frei nahm, um etwas zu unternehmen. Da stimmte doch etwas vorne und hinten nicht. „Wieso hast du morgen frei?", stellte er also direkt die Frage. „Kurzarbeit", kam die gebrummte Antwort. Wie? Das konnte doch nicht sein, in Zeiten des Baubooms.

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt