Genia lief im Wohnzimmer auf und ab. Es waren jetzt schon zwei Tage vergangen seit sie ihre Carmen gefunden hatte. Okay, sie hieß Ina und nicht Carmen. Aber das war ja auch ein hübscher Name. „Spatzl, du läufst noch das ganze Laminat durch. Setz dich doch einmal zu mir hier auf das Sofa." Genia folgte der Aufforderung und ließ sich neben Luca auf das Sofa gleiten. Sofort legte ihr Mann liebevoll den Arm um sie und zog sie an seine Brust. „Warst du heute wieder bei Ina?" Genia nickte. Ja, sie war heute genauso wie gestern und gleich noch vorgestern Abend bei ihrer Tochter. Und jedes einzelne Mal wurde sie von ihr abgewiesen. Obwohl das stimmte nicht. Sie wurde an dem Abend von Espies Geburtstag von Linus abgewiesen. Er hatte ihr erklärt, dass Ina erst einmal etwas Ruhe brauchte, um das alles zu verarbeiten. Okay, das hatte sie eingesehen. Und gestern und heute hatte sie die Haushälterin nicht zu ihrer Carmen gelassen. Die ältere Dame hatte sie jedesmal mitleidig angelächelt. Wahrscheinlich war ihr die Aufgabe auch nicht wirklich angenehm und sie verstand das Theater nicht, dass das Mädel da abzog. Ja, Theater. Hatten sie beide nicht schon genug Zeit verloren? Es war doch schade um jede Sekunde, die sie weiterhin ohneeinander verbringen mussten. „Sie hat sich wieder verleumden lassen. Kannst du mir mal sagen, was dieser Blödsinn soll?" Luca zuckte mit den Schultern. „Also ich stecke ja nicht in ihr drin, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie gerade an ziemlich viel zu kauen hat." Genia verzog ihr Gesicht. „Ina war bis jetzt immer ein Mensch, dessen Leben genau nach Plan ablief." Ja klar, Luca kannte sie ja gut. Schließlich hatten sie ja in Barcelona in einer WG gewohnt und waren sogar kurze Zeit ein Paar gewesen. „Sie hatte genaue Vorstellungen, wie sich alles zu entwickeln hatte. Das wurde dann schon einmal auf den Kopf gestellt, als das mit ihrem Vater passiert ist." Mensch klar, Conny! Warum war sie nicht gleich darauf gekommen. Der musste ihr helfen mit ihrer Tochter in Kontakt zu kommen. Ihn würde sie auch gleich einmal auseinander nehmen, wie er überhaupt an ihre Carmen gekommen war. Das konnte ja wohl kein Zufall gewesen sein. Noch dazu wenn nur seine Frau Carmen hatte adoptieren müssen. In Genias Hirn fing es an zu rattern. Setzte so eine Adoption nicht die Einverständniserklärung des anderen Elternteils voraus? Der war ja sie. Und sie hatte nie ihr Einverständnis dazu erklärt. Conny sollte sich lieber warm anziehen, wenn er ihr gegenüber stand und ein paar wirklich gute Erklärungen für die ganze Sache haben. Bitte, was sollte es da für Erklärungen für geben? Mutter schoss es ihr blitzartig durch den Kopf. Ihre Mutter musste ihre Finger da im Spiel gehabt haben. Sie musste mit Conny Kontakt gehabt haben. Eine andere Erklärung gab es doch dafür nicht. Die Wut in ihr stieg ins Unermessliche. Ja, Conny konnte was erleben. Klar wusste sie, dass er nach seinem Herzinfarkt im Pflegeheim vegetierte. Das würde sie aber nicht davon abhalten ihn höchstpersönlich aus seinem Rollstuhl zu zerren und ihn zur Rede zu stellen. „Weißt du, wo ich ihren Vater finde?" Luca schüttelte seinen Kopf. „Ja, ich weiß es schon, aber er wird dir nichts sagen können. Er ist ein Pflegefall, der kaum noch sprechen kann, wenn ich das von Linus richtig mitbekommen habe. Außerdem, glaubst du wirklich, dass das etwas bringt? Wahrscheinlich ist Ina auf ihn genauso sauer wie auf dich, weil er ihr die Adoption verheimlicht hat. Gib ihr doch einfach etwas Zeit sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass es dich gibt. Du bist ihr doch da im Vorteil. Du wusstest, dass es sie gibt. Sie wusste das aber nicht. Für sie ist die Situation doch ganz neu." Das klang plausibel. Trotzdem! Sie beide hatten schon viel zu viel Zeit ohneeinander verbracht. Sie konnten doch nicht noch mehr Zeit verschenken. Und was erwartete Luca von ihr? Das sie hier herumsaß und die Hände in den Schoß packte bis sich Carmen bei ihr meldete. Nein, das war eindeutig zu viel verlangt. Sie hatte so viele Jahre nichts unversucht gelassen, um ihre Tochter zu finden....und jetzt, wo sie wusste, wo sie war, sollte sie einfach abwarten? Auf keinen Fall. Sie musste etwas unternehmen. „Weißt du, in welchem Pflegeheim Conny liegt?" Genia musste wenigstens dort etwas Druck ablassen....
Eine Stunde später stand sie zusammen mit Luca in einem hübsch eingerichteten Krankenzimmer. War ja klar, dass Conny es zu etwas gebracht hatte, so ehrgeizig wie er schon damals war. Am Tisch am Fenster saß ein Mann mit weißen Haaren im Rollstuhl und starrte vor sich hin. Das.....das konnte doch auf keinen Fall ihr Conny sein. Vor ihrem inneren Auge tauchte der gut aussehende dunkele Schopf mit dem prägnanten Gesicht auf, das sie damals so geliebt hatte. Der Mann im Rollstuhl drehte seinen Kopf zu ihnen und schaute sie aus tiefliegenden Augen an. Plötzlich verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse, die wohl ein Lächeln darstellen sollte. „Lu....Luca", brachte er unter Anstrengung hervor. „Hallo Constantin", grüßte Luca zurück und trat an den Rollstuhl. „Das ist meine Frau Genia", stellte er sie vor. „Ge....Gen...ia.?" Genia musste schlucken. Dieser Mann vor ihr war ein lebendes Wrack. Von ihm konnte sie wirklich keine Unterstützung erwarten. Das wurde ihr schlagartig klar. Genau wie die Tatsache, dass es völlig zwecklos war, Conny ihren Frust spüren zu lassen. Eigentlich konnte man mit ihm nur Mitleid haben. Nein, konnte man nicht! Er war mit daran Schuld, dass ihre kleine Carmen nicht bei ihr aufgewachsen war, auch wenn sie nicht wusste, was zwischen ihm und ihrer Mutter gelaufen war, hätte er genauso gut zu ihr halten und mit ihr ihre Tochter aufziehen können. Scheinbar gab es also wirklich Karma und er hatte jetzt die Auswirkungen zu spüren. Ja, warum sollte es ihm besser gehen als ihr in den ganzen Jahren, in denen sie ihre Carmen vermisst hatte, während er das Familienidyll genossen hatte. Und dann ploppte ein Gedanke in ihr auf, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Es war ja nicht immer Familienidyll. Jedenfalls nicht für ihre kleine Carmen. Sie musste erst den Tod der Frau, die sie für ihre Mutter hielt, verkraften und dann die Pflegebedürftigkeit ihres Vaters. Das war eindeutig zu viel für so ein junges Mädchen. In Genia wurde der Drang noch größer endlich für ihre Tochter da zu sein und ihr zur Seite zu stehen und dafür zu sorgen, dass ihr Leben wieder glückliche Wege einschlug. Ja, dafür würde sie sorgen und davon würde sie auch nichts und niemand abhalten können. Nicht einmal Carmen selbst.
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Schuss und Treffer - in der zweiten Mannschaft ✔️ Teil 13
RomanceLinus und Ina sind schon seit zwei Jahren ein Paar. Gemeinsam führen sie das Bauunternehmen von Inas Vater, der seit seinem Herzinfarkt ein Pflegefall ist. Für Ina war der Weg in die Firma schon von kleinauf vorgezeichnet. Linus hatte sich sein Lebe...