Kapitel 105

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"Haley, ich muss dir noch etwas sagen." raunt seine Stimme, aber er sieht mich immer noch nicht an.
"Was denn?"
Sichtbar eingeschüchtert sieht er auf dem Boden hin un her und geht sich mehrmals über Gesicht und Haare, bevor er wieder spricht. "Ich habe dir etwas verschwiegen, weil ich nicht wusste, ob ich richtig liege. Oder ob es stimmt. Außerdem wollte ich dich nicht beunruhigen und dir nicht noch mehr Stress machen. Und wahrscheinlich bringt mich Jordan dafür um, aber bitte raste nicht aus, wenn ich es dir sage." Nun fallen seine Augen auf mich, sehen aber emotional und gebrochen aus, was mich noch viel ängstlicher macht, als ich es jetzt schon bin.
"Was willst du mir denn erzählen?" frage ich vorsichtig.
Und wieder zögert er. "Als wir bei deinen Großeltern waren, habt ihr den Zaun erwähnt und wie eins der Bretter weiter hinten fehlte. Ich wollte erstmal nicht wahr haben, dass es etwas zu bedeuten hatte. Ich wusste nicht, ob ich richtig lag, also- Scheiße." unterbricht er sich beim schnellen sprechen.
"Was nicht wahr haben?" suche ich seinen Blick.
Er legt den Kopf in den Nacken und starrt die Decke an, was zwar seinen kunstvoll geformten Hals präsentiert, ihm aber nicht mehr Farbe auf der Haut verleiht. Dann setzt er sich mehr zu mir gerichtet hin und sieht mich fest an. "Ich wollte nicht wahr haben, dass das Fehlen der einen Holzlatte etwas zu bedeuten hatte. Und du darfst das niemanden weiter erzählen, aber ich glaube, das war eine Markierung."
"Markierung für was?"
"Für bestimmte Leute, die es auf ihr Haus abgesehen haben." Geschockt erstarre ich. "Ich habe dir das nicht gesagt, weil ich nicht wirklich wusste, ob es stimmt. Ich habe es mal flüchtig mitbekommen, aber nie direkt gehört. Ich dachte, ich irre mich. Leider hat sich das ja im Nachhinein doch bestätigt." Nervös geht er sich durchs Haar und schließt kurz die Augen, bevor er mich wieder ansieht. "Aber das ist nicht alles. Und zwar habe ich Jordan darauf angesprochen. Aber wirklich viel habe ich nicht herausbekommen. Erst recht, weil ich ihm nicht erzählen wollte, dass ich bei deinen Großeltern war und seine Geheimnisse teilen mag er soweiso nicht. Darauf wurde er halt wütend und versucht mir seither aus dem Weg zu gehen. Aber Haley." legt er seine Hände aneinander und sieht mich mit geneigtem Kopf an. "Ich bin mir ziemlich sicher, dass Jordan etwas gewusst hat, beziehungsweise weiß. Ich weiß inzwischen, dass er bei den Randern ist und dort weiß jeder Bescheid, was geplant wird oder was ihre Taktiken sind. Und einer ihrerer Taktiken ist es eben Häuser anhand fehlender Holzlatten zu markieren, bevor sie in diese einbrechen."

Erstarrt sehe ich in seine Augen und verarbeite alles, was er mir gerade erzählt hat. Er hat so schnell und wackelig gesprochen, dass ich es nicht sofort begriffen habe, aber sobald ich das tue, werden meine Augen groß.
"Meinst du damit, dass die Rander das Haus meiner Großeltern bestohlen haben?"
Er nickt. "Und, dass Jordan es wusste."
Fassungslos lehne ich mich zurück. Das hat sich gerade wie ein Schlag ins Gesicht angefühlt. Seine Augen sind ernst. Er macht keine Witze. Wieso sollte er auch? Da gibt es nichts zu lachen. Ungläubig schüttle ich kaum merklich den Kopf, als würde mein Gehirn es nicht wahr haben wollen. Es kommt mir auch unrealistisch vor.
"Aber er wusste wahrscheinlich nicht, dass es ihr Haus war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er es zugelassen hätte, hätte er es gewusst."
Und auch wenn das stimmen mag komme ich nicht aus meiner Starre und fühle mich immer noch paralysiert vor Schock. Das kann nicht sein.
"Ich..." meine Stimme will nicht funktionieren, weshalb es dauert, bis ich weiter spreche, "Ich werde ihn diesmal direkt darauf ansprechen." Der Rest seiner Worte kommt aber auch zu meinem Hirn durch. "Ist es okay?" Wenn ich Jordan so präzise auf die Rander anspreche, wird er sofort wissen, dass ich die Informationen von Mitchel habe und er ist zu unberechenbar, um zu wissen, was er darauf mit ihm macht. Aber bestimmt nichts gutes. Trotzdem nickt Mitchel.

Darauf sagt niemand von uns etwas. Wir sitzen einfach nur stumm voreinander, jeder in seinen eigenen Gedanken. Ich muss erstmal den Möglichen Verrat meines Freundes verarbeiten. Der Person, der ich mit am meisten vertraut habe und mir so wichtig ist, wie sonst nichts auf dieser Welt. Er hat mich angelogen. "Danke,..dass du es mir erzählt hast, Mitchel." raune ich irgendwann und wir sehen uns wieder an. Er schüttelt nur den Kopf und diesmal umarme ich ihn einfach um seinen Bauch, was ihn anspannen lässt. Ich brauche das gerade. Sonst weiß ich nicht, was ich tun soll. Es fühlt sich an, als würde mein Verstand stückweise zerfallen. Aber sobald auch er seine Arme über mich legt, hält das an und ich schließe die Augen. Sein Herzschlag ist schnell, doch beruhigend. Was würde ich wohl ohne Mitchel machen? Er ist die erste Person, mit der ich so gut befreundet war.

Erst, als mein Rücken anfängt zu schmerzen, löse ich mich von ihm. "Ich glaube ich sollte gehen." Ich sollte Jordan woanders treffen. Es wäre wahrscheinlich keine gute Idee, ihn darauf anzusprechen, wenn Mitchel in der Nähe ist. Oder wir bei ihm Zuhause sind.
Wortlos sieht er zu, wie ich aufstehe und mir meine Winterjacke überziehe. Mein gesamter Körper fühlt sich taub an. Es sind zu viele Gedanken, die in mir kreisen. Und jeder einzelne rast so schnell vorbei, dass ich ihn nicht richtig erfassen kann. Doch genau da ertönt ein Sturmklingeln und ich sehe erfroren zur Zimmertür.

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