Kapitel 109

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Ich rüttle noch an der Glastür zum Garten um sicherzustellen, dass wirklich auch alles verschlossen ist, sobald es schon spät in der Nacht ist, und trotte in meiner übergroßen Pyjamahose mit Brokoliemustern hinauf.
Niemand sollte einbrechen, da die Türen stabil sind. Alleine das Glas der Tür unten ist fast zehn Zentimeter dick. Nur die vorherige Eingangstür...die war nicht so stabil. Dafür ist es jetzt die fast komplett aus Metall bestehende Ersatztür. Und die folgende wird sicherlich nicht dünner sein. Seufzend gehe ich den oberen Flur entlang und mache sicher, dass alle Fenster geschlossen sind. Und während ich die zehn Räume durchgehe, kommt mir Jordan ungewollt in meine Gedanken. Wie er das alles abgelaufen haben muss, bevor ich ihn überhaupt hergebracht habe. Wie er nach den geheimen Verstecken meiner Großeltern gesucht haben muss. Ich kann nicht aufhören mich zu fragen, was er alles genau gesehen hat. Es kommt mir immer noch so...unrealistisch herüber. Im letzten Gästezimmer bleibe ich stehen. Jetzt macht es Sinn, wieso er sich nicht groß umgesehen hat, als ich ihn meinen Großeltern vorgestellt habe. Wieso er so enttäuscht aussah, als wir uns dem Haus näherten. Er kannte es alles. Er brauchte sich nicht erstaunt umsehen, wie Mitchel.

Realisierend schaue ich zu dem großen Fenster gegenüber mit seinen weißen dicken Vorhängen, die in der Dunkelheit das Reinste im gesamten Raum sind.
Unwillkürlich kommt mir sein Blick von damals in den Kopf. Als wir uns dem Haus näherten und ich ihn gefragt habe, ob es ihm gut ging. Er sah kaputt aus. Dann sind da seine Worte vor drei Tagen. "Ich habe mich ja mieserabel gefühlt." Und etwas in meiner Brust kribbelt minimal, als ich befürchte, dass es wirklich ungwollt von ihm war, dass es so gekommen ist.
Aber ich erdrücke dieses kleine Gefühl so schnell es geht. Es ändert nichts an dem. Mit zusammengepressten begebe ich mich in das himmelblau gestaltete Gästezimmer in der Nähe des Schlafzimmers meiner Großeltern und schließe die weiße Tür hinter mir. Mit einem letzten Blick auf das weißhölzerne Mobilliar, dass gefüllt ist mit meinen Sachen, schalte ich den Kronleuchter aus und tappe zum großen Himmelbett an der Seite, um mich unter die vielen Decken zu legen und die Stille um mich nun viel mehr wahrzunehmen.
Ich wage noch einen letzten Blick auf mein Handy, wo ich aber nur die ganzen verpassten Anrufe von Jordan wieder sehe. Heute waren es nur 5. Trotzdem stelle ich es auf Flugmodus, sollte er wieder auf die Idee kommen mich mitten in der Nacht anrufen zu müssen.
Seufzend realisiere ich das morgen wieder Montag ist. Das heißt, ich werde ihn wieder sehen müssen. Und es wird mit großer Wahrscheinlichkeit wie Freitag ablaufen, wo er versucht hat mich im Flur abzufangen oder andere belästigt hat, damit sie ihm sagen, wo ich Unterricht habe. Zwar ignoriere ich ihn und haue so schnell es geht ab, aber sein Verhalten macht alles noch viel schlimmer. Nate weiß zwar noch nichts von uns, aber wenn er so weiter macht, wird er das bald. Mit verzerrtem Gesicht grabe ich mich tiefer in das seidene Kopfkissen.


Und nach einer langen Fahrt mit dem Bus komme ich endlich an der Schule an und habe mich schon mit Mitchel verabredet, der mich heute in meinem Englischkurs wieder unterstützen möchte. Okay, was heißt hier unterstützen. Zwei Wracks, die sich gegenseitig halten und einfach niemand anderes neben sich haben wollen, weil keiner das Verhalten von uns nachvollziehen kann, wie der jeweils Andere.
Aber verhalten tun wir uns nicht mehr wie damals. Er ärgert mich nicht mehr, sodass die Lehrerin uns nicht einmal im geringsten ihre Aufmerksamkeit schenkt und seine dummen Kommentare lässt er auch mal aus. Das einzige Mal, wo wir wirklich Mühe haben, nicht laut aufzulachen, war, als Mitchel etwas beim durchscrollen im Internet gefunden hat, dass er mir darauf gezeigt hat.
"Wann wäre es besser deinen Geburtstag Nachzufeiern? Freitag oder Samstag?" frage ich dann leise nach langer Stille.
"Du willst das immer noch machen?"
"Klar. Oder ist dir gleich an deinem Geburtstag lieber? Nur wirklich feiern wäre dann nicht möglich, weil am nächsten Tag Schule wäre."
Kurz bleibt er still, während ich mitschreibe, doch seufzt geschlagen. "Na dann Freitag." man hört wie er dabei etwas grinst.
"Okay, ich kümmere mich schon um alles. So wie du es eben bei mir getan hast." strecke ich ihm die Zungenspitze entgegen, "Du musst nur die Leute einladen. Bis zu 30 kannst du ruhig einladen. Und am besten Menschen, die nicht unbedingt bei jeder Möglichkeit randalieren."
Er schüttelt ungläubig den Kopf, während er grinst.
"Es wäre okay für dich, wenn die Menschen von deinen Großeltern erfahren?"
Einen Moment überlege ich, doch nicke. "Sollten sich welche danach wirklich bei mir einschleimen wollen, weiß ich ja Bescheid. Ich habe euch schon als Freunde und ihr seid die Einzigen, die ich brauche. Egal, wenn andere danach behaupten werden meine Freunde sein zu müssen."

Wir bleiben still, bis mir ein Gedanke kommt, der mir einen bitteren Geschmack auf der Zunge verursacht. Doch ich schlucke es einfach runter und äußere ihn für Mitchel. "Willst du dann Lorx, Eric und so weiter auch einladen?" Ich frage so beiläufig wie möglich, aber ich bemerke darauf seinen besorgten Gesichtsausdruck, den ich absichtlich nicht beachte, während ich so tue, als würde ich etwas aufschreiben.
"Lorx schon, wenn es okay ist. Genauso wie Reeven und Aaron. Eric würde wahrscheinlich nicht einmal kommen wollen." schnauft er spöttisch, doch man hört die Anspannung dahinter, "Du...fragst wegen Jordan, oder?"
Alleine seinen Namen zu hören lässt mich versteifen und etwas regt sich im Inneren bei mir. Doch ich zucke nur die Schultern.
"Keine Sorge. Ihn will ich nicht dabei haben. Alleine wegen dem, was zwischen euch passiert ist."
Verunsichert sehe ich doch zu ihm, wo seine Augen mich gefühlvoll anstarren. Einen Moment halten sie mich auch gefangen, bis er auf den Stift in meiner Hand sieht. "Außer du möchtest es."
Sieht er mich danach wieder an, doch nach kurzem Zögern schüttle ich wieder stumm den Kopf. Einen Moment sehen wir uns noch an, bis er sich wieder seinem Handy zuwendet und ich meinem Block.

Seit all dem sind Mitchel und ich umeinander eher ruhig. Manchmal dringen die alten Verhaltensweise an die Oberfläche, aber deutlich seltener. Dennoch heißt es nicht, dass unsere Freundschaft versagt. Es kommt mir sogar vor, als wären wir noch enger zusammengeschweißt worden und fühlen uns neben dem Anderen wohl.
Doch als wir stumm durch den Flur watscheln und er überlegt, auch seinen nächsten Block für mich zu schwänzen, wird diese Stille unterbrochen, als eine energiegeladene Präsenz von unserer Aufmerksamkeit erfasst wird.
Zwar erinnert er nicht an einen Bullen, doch wirkt nicht weniger unterdrückend, als er direkt auf uns zukommt.
Augen verdrehend, packe ich sanft Mitchels Arm und ziehe ihn mit mir zu Seite, in der Hoffnung, Jordan stürmt geradewegs ans uns vorbei, doch er scheint uns fixiert zu haben. Grob schubst er Mitchel weg und drängt mich schier mit seinem breiten Körper nach hinten, als ich wütend zu Miti will. "Sag' mal hast du sie noch alle? Lass' uns in Ruhe!" zische ich, als er mich gegen die Wand pressen lässt, ohne mich wirklich anzufassen. Dabei sehe ich im Augenwinkel die ganzen Schüler, die uns wie Kühe beobachten. Es ist deutlich stiller um uns geworden.
"Du antwortest meinen Anrufen nicht, wie soll ich dann mit dir reden, wenn nicht in der Schule?" knurrt er und überdeckt mich fast komplett mit seinem Schatten.
Erschrocken starre ich ihn an. Er gibt gleich noch alles Preis, dass mir auch noch die Beziehung zu meinem Bruder versaut.
"Ich will nicht mit dir reden!" presse ich leise hervor und stelle mich sogar auf Zehenspitzen, um ihm das direkt ins Gesicht sagen zu können, "Hör' auf mich in der Schule anzusprechen. Am Ende machst du alles in meinem Leben kaputt, dass noch übrig geblieben ist." Seine Augen werden groß, doch ich sehe nicht mehr hin, als ich mich von ihm wegschiebe und zu Mitchel gehe, der hinter ihm stand und nicht zu wissen scheint, was er tun soll.
Ich lege nur meine Hand auf seine Schulter und bringe ihn dazu mit mir abzuhauen. "Hör' auf so kindisch zu sein, Haley!" wird uns laut hinterhergerufen und ich schließe tief durchatmend die Augen, weil es sich anfühlt, als wäre mein Körper physisch angegfriffen worden. Sein auffälliges Verhalten pisst mich an. Aber der stumme Schmerz tief in meiner Brust ist dennoch da und zieht stetig an mir. Ich weiß nicht, wie ich dieses hin und her noch überleben soll.

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