Kapitel 107

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Und obwohl ich den gesamten Weg alleine nach Hause laufe, scheinen meine Tränen nicht aufhören zu wollen aus meinen Augen zu fließen. Ich bin emotional paralysiert. Ich weiß nicht, was ich spüre, während ich nicht aufhören kann, zu laufen, aber es ertränkt mich. So sehr, dass ich meine ursprüngliche Angst, von irgendwelche Gangmitgliedern überwältigt zu werden, vergessen habe und das Schluchzen versuche zu unterdrücken. Noch nie habe ich mich so verraten gefühlt.
Immer habe ich zu ihm gehalten. Mich verhalten, wie es ihm am besten wäre. Und dann tut er das. "Dich geht soetwas gar nicht erst an. Es ist mein Geschäft, verstanden." hatte er auch noch gesagt. Ich fasse es nicht. Und ich dachte, unsere Beziehung beruht auf Ehrlichkeit. Ich hab mich verdammt nochmal überreden lassen, ihm all meine Geheimnisse zu erzählen. "Ich darf dir nichts verraten, was die Rander betrifft." Das waren seine Worte, bevor die Kevita ankamen.
Ungläubig stöhne ich aus und kann nicht fassen, dass er mir damit auch gleich sowas verheimlichen würde. Wie dumm bin ich?

Als ich Zuhause endlich ankomme, fühlt es sich an, als würde ich emotional endgültig zusammenbrechen. Rücksichtslos kicke ich meine Stiefel von den Füßen und bemerke nur, wie einer davon gegen den Spiegel knallt, doch nichts als ein lautes Geräusch verursacht.
Mir ist alles so scheiß egal. Unter Tränen überlaufenden Augen presse ich wütend die Lippen aufeinander und stürme die Treppe hinauf, in mein Zimmer.
Ich höre noch, wie Nates Stimme etwas hinter mir sagt, aber ich höre nicht hin. Ich bin in meiner Welle und knalle die Tür hinter mir zu bis ich überkommen mit Frust meine Tasche so weit wegschmeiße wie möglich. Aber es gibt mir keine Genugtuung. Es lässt mich sogar noch weniger verbunden mit mir selbst fühlen und ich streife die Jacke so grob von mir runter, dass ich mich am Verschluss schmerzvoll kratze. Doch auch das ignoriere ich und spüre nur die Hitze in meinen Augen, als ich auch schon auf mein Bett falle und anfange laut auzuheulen. Es ist alles durcheinander. Alles zerstört. Ich weiß nicht, wie ich auf das alles reagieren soll. Und mein Zorn auf ihn macht alles so viel schlimmer.

"Haley? Was ist passiert?" höre ich Nate besorgt.
"Hau ab." schluchze ich nur, ohne ihn anzusehen. Und vergrabe mein Gesicht im Kissen.
Dennoch spüre ich, wie sich die Matratze senkt, was ein komisches Gefühl durch meinen Körper jagt. Etwas kaltes. Und als er seine Hand auf mein Schulterblatt legt, bekomme ich Gänsehaut von seiner Wärme. "Was hat er angestellt? Komm' schon. Rede mit mir."

Ich bleibe noch ein Weile weinend liegen, bis ich mich zu seinem "Was hat Mitchel getan?" abrupt aufsetze und ihn schmollend ansehe. Anscheinend sehe ich furchtbar aus, denn sein Gesicht verzieht sich um einiges mehr, während seine Augen große Besorgnis ausstrahlen.
"Er hat nichts getan." meine ich und verkrampfe mich schluchzend. "Er hat mir nichts getan, außer mich zu unterstützen."
"Unterstützen? Haley, wovon redest du?"
Meine schon irritierten Augen sehen zur Seite, solange ich versuche nicht mehr zu schluchzen. Ich überlege es ihm zu verraten, doch dann erinnere ich mich, was passieren könnte und weine umso lauter, während ich mein Gesicht mit den Händen verdecke.
"Hey, hey." höre ich ihn sanft und spüre seine Arme um mich, "Erzähle mir einfach was passiert ist."
"Ich-Ich kann nicht, Nate.." wimmere ich und lasse zu, dass er meinen Kopf gegen seine Schulter drückt.
"Aber warum?" streichelt er mir über den Rücken und drückt seine Wange gegen meinen Kopf.
"Weil du mich hassen würdest."
"Ich könnte dich nie hassen, Haley."
"Nach der Sache schon!" schluchze ich. Es bleibt darauf still und ich halte es nicht mehr aus. Hastig umarme ich ihn, weil ich einfach spüre, wie mein Herz auseinander bricht. Die Gefahr, die ich vor Wochen schon gefühlt habe, ist eingetreten. Ich war noch nie so tief. Nicht einmal, als mich seine Nähe fertig gemacht, die ich damals nicht vollkommen genießen konnte. Jetzt hatte ich ihn endlich in meinem Leben und wurde so tief in den Boden gerammt, dass ich nicht mehr atmen kann. Ich hasse ihn... Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Hasse ihn.
Doch während ich das denke, schmerzt meine Brust nur noch viel mehr und ein weiterer ärmlicher Schluchzer verlässt meine Kehle.
"Beruhige dich. Ich bin hier falls was." murmelt er brechend.

Meine Umarmung um ihn verkrampft sich für mehrere Sekunden, bis mich alle Kraft zu verlassen scheint und auch meine Schluchzattacken milder werden.
"Nate, Ich hab' dich lieb."
"Ich dich auch." meint er nach kurzem Zögern.
Es ist mir egal, wie schlimm ich aussehe. Ich löse mich ein wenig von ihm und sehe ihn mit angeschwollenen Augen an. "Ich habe etwas getan, dass mich schuldig fühlen lässt, weil es dir gegenüber nicht fair ist." winsle ich bedrückt, "Und ich werde dir davon erzählen. Versprochen. Nur nicht jetzt. Bitte."
Einen Moment sehen wir uns mit unseren fast identisch aussehnden grünen Augen an. Er versucht etwas in meinen zu sehen. "Ist es ein Junge?" Und er sieht. Wir wissen einfach, was im anderen vorgeht. Schmollend nicke ich und spüre, wie neue warme Tränen über meine Wangen strömen.
Er atmet tief aus, während er geknickt aussieht. "Ist es Mitchel?" Ohne irgendeine Wut oder Nerv, schüttle ich zitternd den Kopf. "Egal, wer es ist. Er ist es nicht wert. Hörst du?"
Ich sehe ihn noch einen Moment verletzt an und vergrabe mich dann wieder in seinen schwarzen Pullover, der nach ihm und Chips riecht.

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