Kapitel 108

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Es sind schon drei Tage vergangen und ich habe immer noch Angst, dass man mir meine angeschwollenen Augen ansehen kann. Noch nie habe ich so lange wegen etwas geweint. Und auch jetzt, wo ich daran denken muss, spüre ich, wie sich mein leeres Herz zusammenzieht, während ich stumm im Eingangsbereich meiner Großeltern stehe und ihnen dabei zusehe, wie sie ihre antik aussehnden Koffer überprüfen und zählen. Es sind fünf Stück, aber es überrascht mich nicht. Ich bin an diesen Anblick mehr als gewöhnt. Nicht, dass ich in diesem Zustand überhaupt etwas fühlen würde.
Die graue Ersatzhaustür ist sperweit offen und lässt neben der eisigen Kälte auch den Chauffeur rein, der ihre Koffer anpackt und in die teure Luxuskarre trägt, die das Pärchen zum Flughafen bringen wird.

"Phu!" höre ich Oma und werde aus meinem emotionslosen Starren gerissen, als sie auch vom letzten Koffer ablässt, "Endlich fertig. Wir sollten alles haben."
"Dann lass uns los. Ich will mich später nicht beeilen müssen." murmelt mein Opa und hilft ihr in ihren gelben Wintermantel, bevor er seine Mütze richtet und mit seiner eigenen Taschen gedankenverloren das Haus verlässt.
Dabei halte ich kurz inne und frage mich, wieso er sich gar nicht verabschiedet hat. Nicht einmal eienes Blickes hat er mich gewürdigt. Dann schiebt sich meine seufzende Oma in den Vordergrund. "Nimm' ihm das nicht übel. Er war schon die ganze Woche so und heute ist er um einiges mehr im Kopf versunken, weil er das Haus nicht wieder alleine lassen will." lächelt sie mitleidig, als sie sich ihre Lieblings Karl Lagerfeld Tasche an die Arminnenseite hängt und zu mir kommt. "Er ist zurzeit viel zu durcheinander."
"Nein, das verstehe ich natürlich." räuspere ich mich und versuche wacher auszusehen. Dennoch legt sie den Kopf schief, als ihr auffassender Blick auf mir bleibt.
"Ist alles gut bei dir?"
Nervös lache ich, aber diese harmlose Tat schallt wie ein Echo weiter in mir und lässt mich plötzlich unmengen traurig fühlen. "Ich fühle mich nur nicht so gut. Vielleicht werde ich krank." krächze ich. Sie bleibt einen Moment still, bis sie sich fast widerwillig verabschiedet und die Haustür hinter sich zuzieht.

Erschöpft atme ich aus und verliere an Ordnung in meiner Haltung, als sich alles entspannt. Mein Körper fühlt sich ungewöhnlich schwach an. Dennoch trotte ich zur Tür, die an ihren Seiten dekorative Glasscheiben eingebaut hat, doch sie sind größtenteils milchig und durch die klaren Eingravierungen kann ich kaum etwas von draußen erkennen.
Aufgebend drehe ich mich wieder zum Haus und stehe erst einmal da, überlegend, was ich jetzt die zwei Wochen hier tun soll. Ohne meine Großeltern ist es so leer und still. Und als meine Gedanken zu einer Person übergehen wollen, die ich in solchen Fällen gerne um mich gehabt hätte, fahre ich innerlich zusammen und steuere das Bedienungseld neben der Treppe an.
Mit zittrigen Fingern tippe ich hastig durch die Funktionen, während ich mit großern Anstrenung versuche ihn aus meinem Kopf zu bannen, und verursache im nächsten Moment, dass aus den im Haus eingebauten Lautsprecheranlagen Vivaldi anfängt zu spielen.

Augenblicklich entspanne ich mich und schaffe auch, meinen Kopf zu betäuben, der endlich aufhören soll zu denken. Überforder schleppe ich meinen Körper zwei Schritte nach hinten und überblicke erneut die Kulisse um mich. Ich brauche Ablenkung.
Jetzt würde ich wahllos anfangen zu putzen, aber der Putzdienst kommt zwei Mal die Woche vorbei und hinterlässt alles immer blitzsauber. Kochen will ich gerade auch nicht. Mein Hungergefühl hält sich stark in Grenzen. Ohne wirklich nachgedacht zu haben schleife ich mich in den riesigen Wohnbereich und links neben dem großen Esstisch, der immer ein Hingucker ist, fällt mir nun das weiße Klavier auf. Benommen starre ich es für mehrere Sekunden an, bevor ich rein aus Gefühl darauf zusteuere und mich wie in Zeitlupe davor setze. Es dauert wieder einen Moment, bis meine Beobachtungen vergehen und ich letztendlich schwach meine Hand ansetze und drei nicht zusammenpassende Töne aus der Baute verlange. Sie hallen trotz der Musik um mich in meinem Kopf weiter, wie geistige Kreaturen, während ich wie eine Statue dasitze und die Tasten mustere.
Normalerweise spiele ich kaum. Das letzte Mal, als ich wirklich wöchentlich geübt habe, war ich vielleicht vierzehn. Dann, ab einem Punkt, habe ich damit aufgehört. Es hatte angefangen mir einen Frust zu verleihen, obwohl ich es mit ganzem Herzen liebte und ich habe nur in den Abenden für die Spender gespielt. Aber jetzt, wo ich nichts wirklich zu spüren scheine, als Einsamkeit, kommt mir der Gedanke wieder so verlockend vor. Vorsichtig spiele ich eine kurze Reihe, die mich in einen Modus der Konzentration versetzt. Und desto mehr ich spiele, desto mehr eingenommen bin ich darin. Sodass ich kurz darauf selbst die Musik nicht mehr höre und die meisten Kompositionen runterrattere, die mir in den Sinn kommen. Nicht beachtend, dass die Bodenlangen Fenster zu meiner linken irgendwann pechschwarz werden und ich erst aufhöre, als ich wahrhaftig die Tasttaturen in der Dunkelheit nicht voneinander unterscheiden kann.

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