Leopold rannte an den Häusern des Dorfes entlang. Er stellte sich vor, seine Füße würden ihn an die entferntesten Orte tragen. Bis zum Meer? Oder noch weiter?
Er hatte das Meer noch nie gesehen. Er war gerade einmal sechs Jahre alt, doch seine Mutter nannte ihn ihren kleinen Helden. Er fühlte sich nicht klein. Aber ein Held? Ja. Er wollte ein Held sein. Er wollte die böse Königin besiegen und alle Elfen retten.
Am Morgen waren Soldaten in das Dorf gekommen und hatten zwei Elfen mitgenommen. Die beiden hatten zwei Tage zuvor geheiratet. Doch nun waren sie fort, um irgendwo zu arbeiten. Ein paar Elfen hatten versucht die Soldaten zu stoppen. Leopold hatte noch nie so viel Blut gesehen.
Seine Mama sagte, dass sie sich nicht hätten wehren dürfen. Dass sie alle keine Wahl hatten. Dass die Soldaten wiederkommen würden. Und sie konnten nichts tun. Die toten Elfen hatten sie im Wald beerdigt, damit sie Teil der Bäume werden konnten. Die Bäume wachten über ihr Dorf. Leopold stellte sich manchmal vor, sie seien Krieger, die die Soldaten verscheuchen konnten. Aber... Warum taten sie das dann nicht? Warum halfen die Bäume nicht?
„Leopold." Der Älteste kam ihm entgegen. „Was machst du hier? Wo sind deine Eltern?"
„Arbeiten."
„Und du hilfst ihnen nicht? Aber du bist doch schon groß genug? Lernst du schon Lesen?" Der Älteste kniete sich zu ihm herunter. „Oder fängst du bald an?"
„In ein paar Wochen." Leopold war stolz darauf, schon so groß zu sein, dass er bald Lesen lernen würde. „Mit Sofia. Ihre Mama gibt uns dann Unterricht."
„Das hört sich gut an."
„Ja! Sofia sagt, dass wir dann ganz viele Kekse essen dürfen. So viele, wie wir wollen!"
„Das hört sich noch besser an. Und was machst du jetzt schönes?"
„Ich gehe auf Weltreise! Zu all den tollen Orten! Bis an das Meer!" Leopold zeigte in die Richtung, in der er glaubte, dass dort das Meer liegen würde. Tatsächlich zeigte er in die Richtung der Steppe, aber das wusste er nicht.
„Das hört sich super an. Aber... Solltest du nicht deinen Eltern helfen?"
„Papa sagte, ich habe genug geholfen. Ich habe im Laden gefegt!"
„Oh. Das ist ja was."
Leopold nickte. „Ja! Ich wollte mit Sofia spielen, aber sie hatte keine Zeit. Und Mama hat keine Zeit, um mir was vorzulesen... Du? Warum sind die Soldaten gekommen? Warum dürfen sie Elfen mitnehmen? Warum dürfen sie uns weh tun? Mama sagte, ich sei zu klein, um das zu verstehen."
„Hm..." Der Älteste überlegte einen Moment. „Möchtest du ein paar Kekse? Ilse hat welche gebacken. Sie sind sehr lecker. Und ich beantworte deine Frage. Meinst du, deine Eltern sind damit einverstanden?"
„Bestimmt!" Leopold wollte gerne Kekse essen. Und er wollte, eine Antwort. Die letzten Nächte hatte er nicht schlafen können. Er wollte wissen, warum andere so böse waren.
„Na dann. Komm mit. Lass uns Kekse essen!"
„Ja!"
Kurz darauf saß Leopold in dem kleinen Wohnzimmer des Ältesten und futterte die leckersten Kekse. „Ilse kann gut backen", sagte er schmatzend. Ein paar Krümel waren auf seine Hose gefallen. Er wischte sie schnell weg.
„Nicht wahr? Sie macht die besten Kekse. Meine Frau hat sie auch gern gemocht."
„Warum ist sie nicht mehr da?", wollte der kleine Junge wissen.
„Weil sie mutig war. Sie hat sich Soldaten entgegengestellt, die einen Teenager mitnehmen wollten. Sie war eine Heldin."
„Haben die Soldaten den Teenager mitgenommen?" Hatte seine Frau auch den Boden so rot gefärbt? „Sie deine Frau tot?"
„Leider ja." Der Älteste strich sich durch Haar. „Inga und Ilse haben es gesehen."
„Warum dürfen die Soldaten das?"
„Weil sie böse sind. Vor vielen, vielen Jahren gab es Streit zwischen den Hexen und den Werwölfen. Wir Elfen haben uns den Wölfen angeschlossen und haben mutig gegen die furchtbaren Hexen und Zauberer gekämpft. Wir waren richtige Helden und hätten unser Land vergrößern können."
„Das klingt aufregend!" Helden! Leopold wollte auch ein Held sein.
Der Älteste schmunzelte. „Ich war noch sehr jung, als wir verloren. Soldaten nahmen mir meine Eltern. Meine Geschwister. Das ist alles sehr lange her."
Leopold verzog das Gesicht. „Wie gemein."
„Die Hexen haben gewonnen. Mit bösen Tricks! Und jetzt müssen wir machen, was sie wollen", sagte der Älteste. „Es gab mehrere Versuche, die böse Königin zu besiegen, aber noch war niemand so ein großer Held."
„Ich könnte der Held sein!", sagte Leopold sofort. Er wollte nie wieder von so vielem Blut träumen.
„Könntest du das?" Der Älteste lächelte.
„Ja! Ich könnte das. Ich kann uns alle retten!" Leopold verschränkte die arme. „Wenn ich groß bin! Merk dir das, ja?"
„Das werde ich, kleiner Held. Möchtest du noch einen Keks?" Er hielt dem kleinen Jungen die Schüssel mit Keksen hin. Leopold wollte gern noch einen Keks.
„Leopold?", fragte der Älteste nun. „Versprichst du mir etwas?"
„Ja!"
„Wir Elfen müssen aufeinander aufpassen. Wir dürfen einander nicht verraten. Wir müssen die Königin besiegen!" Er zwinkerte dem Jungen zu.
Leopold sah den Ältesten mit großen Augen an. „Ja! Das müssen wir!"
„Richtig. Wir müssen sie besiegen. Egal wie. Egal, was wir dafür opfern müssen! Das darfst du nie vergessen. Versprichst du mir das?"
„Ich verspreche es. Die Hexen sind böse."
„Sehr böse. Aber wir, wir sind die Helden."
„Helden!" Nichts wollte Leopold mehr.
„Gut. Aber jetzt geh besser zurück zu deinen Eltern. Du kannst sie beschützen, kleiner Held."
„Das mache ich. Und meine Freunde!"
„Gut so. Ich bin immer für dich da, Leopold. Wann immer du Fragen hast." Der Älteste stand auf und zerzauste ihm die Haare. „Wir können über all deine Fragen reden! Und über all deine zukünftigen Heldentaten."
Von dem Tag an traf sich Leopold oft mit dem Ältesten, besonders wenn etwas Schlimmes im Dorf passierte und er mit jemandem darüber reden musste. Manchmal kamen auch andere Kinder mit. Sie alle bewunderten den Ältesten. Er war so mutig und weise. Er wusste auf alles eine Antwort. Und der Älteste verabschiedete Leopold immer mit den gleichen Worten.
„Denk an dein Versprechen. Wir müssen unser Volk retten!"
Und Leopold glaubte jedes Wort aus tiefstem Herzen. Seine Eltern sagten, dass es sicher auch gute Hexen und Zauberer gab. Das nicht alle schlecht sein konnten. Aber was wussten sie schon? Seine Mutter war gerade einmal einhundert Jahre alt und sein Vater einhundertfünfzig. Sie hatten nicht gesehen, was der Älteste gesehen hatte.
Leopold wusste nicht, dass seine Eltern sehr wohl wussten, wovon sie sprachen. Sie hatten seine ältere Schwester verloren, als sie sich gegen die Soldaten wehrte. Vor vielen Jahren. Leopold hatte sie nie kennengelernt. Nach dem Tod ihrer Tochter, wollten die beiden keine Kinder mehr. Leopold war ein Versehen gewesen. Ein Versehen, welches sie sehr liebten und mit aller Macht schützen wollten.
Sie ahnten nicht, dass er eines Tages von ihnen fortgerissen würde, um der Diener einer Hexe zu sein.
Natürlich wusste auch der Älteste das nicht, doch er plante bereits, den Jungen einmal zu nutzen.
( c: sasi )
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Hexe - Der Aufstand
FantasiJulia möchte ein normaler, sterblicher Mensch sein. Ihre ältesten Geschwister sind Hexen, Zauberer. Julia möchte nichts davon. Sie möchte alles hinter sich lassen. Doch das Schicksal hat anderes mit ihr vor: Kurz vor ihrem 16. Geburtstag zeigt sich...