Kapitel 98

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Julia

Sie fühlte sich furchtbar. In der Nacht hatte sie schlecht geträumt. In ihrem Traum entführte Leopold sie aus ihrem Bett und sperrte sie in eine Höhle. Im Hintergrund hörte sie das Lachen des Ältesten und ihrer Mutter. Peter versuchte sie zu retten, doch er versank im Boden. Bevor er für immer verschwand, traf ihn ein Pfeil. Das letzte, was sie von ihm sah, waren seine toten Augen. Es war ein schrecklicher Traum gewesen.

Was sollte sie nur tun?

Sie liebte Leo. Daran gab es keinen Zweifel. Doch er hatte sie hintergangen. Aus Verzweiflung, Angst und Liebe zu seinem Volk. Seine Eltern hatten sie nicht schlecht behandelt und dennoch waren furchtbare Dinge passiert. Das Bett war zu klein gewesen und Finn hatte sich im Schlaf verletzt. Ihr wurde das Haar abgeschnitten und der Älteste drohte, sie in einen Lagerraum und sogar in eine Kiste zu sperren. Der Älteste. Er war nicht unter den Überlebenden. Auch seine Tochter Inga war nicht bei ihnen. Konnten sie fliehen? Waren sie irgendwo im Wald? Gab es noch mehr Überlebende? Oder waren sie alle fort? Für immer? Julia hatte das nicht gewollt.

Und nichts davon war Leos Schuld, auch wenn er sie Verraten hatte. Was schlimm genug war. Aber. Nein. Die wahre Schuldige war ihre Mutter. Königin Agathe von Sonnenhof. Ihre Grausamkeit hatte die Elfen so weit getrieben. Julia konnte ihr das nicht verzeihen. Wie viele Leben hatte sie schon ruiniert? Geopfert? Wie viele Familien hatte sie auseinandergerissen?

Julia hatte ihre Mutter einst bewundert. Als sie noch klein war und nichts von der Welt verstanden hatte. Ihre Mama war eine gute Königin, die auf alle aufpasste. Das hatte Julia geglaubt. Manchmal wünschte sie sich zurück in die Vergangenheit. Zurück in die Zeit als sie nicht ahnte, wie fürchterlich die Welt war. Als sie die Grausamkeit ihrer Mutter noch nicht kannte. Als sie und Peter noch davon träumten Hexe und Zauberer zu sein. Als sie noch nicht wusste, dass die gebundenen Diener im Schloss dort nicht freiwillig arbeiteten.

... Und der Älteste... Auch ihm konnte sie nicht verzeihen. Er war grausam gewesen.

Leopold unterhielt sich gerade mit Finn, während er Claudia wie eine Prinzessin trug und ab und an hüpfte, um das Mädchen zum Lachen zu bringen. Die beiden Wölfe Liam und Pepe hatten sich zu Gisele und Lavinia gesellt. Pepe schnitt Grimassen und brachte damit die kleine Maleen zum Lachen. Hanno und Flora diskutierten mit ein paar anderen Elfen ihren weiteren Weg. Fiete ging still hinter Peter her. Er sah so aus, als wollte er ein Gespräch starten, doch wusste nicht, worüber. Josef hatte sich in einen kleinen Kater verwandelt und lag wärmend auf Julias Schultern. Sein leises Schnurren tröstete sie.

Leo setzte Claudia ab und das Mädchen rannte zu ihrer Mutter. Sie hatte Hunger. Immer wieder klagte eines der Kinder darüber. Julia seufzte.

„Ist alles in Ordnung?" Leopold kam zu ihr und griff nach ihrer Hand.

„Nicht wirklich, nein."

„Was ist los?"

„Ich habe schlecht geträumt..." Die Bilder des Traums verfolgten sie noch. Josefs Schnurren wurde lauter und er rieb seinen Kopf an ihrer Wange.

„Was hast du geträumt?", wollte Leopold wissen.

„Das du mich entführt hast und das Peter gestorben ist", murmelte sie. Sie fühlte sich schlecht. So etwas wollte sie nicht träumen...

„Oh." Leopold blinzelte. Von Josef war ein empörtes Maunzen zu hören.

„Ja. Oh. Wie bist du auf die Idee gekommen? Leo? Nur, weil der Älteste dich darum gebeten hat? Mich zu entführen?" Jetzt fauchte Josef. Julia strich ihm beruhigend über den Kopf. Er sprang von ihrer Schulter und verwandelte sich zurück in einen Menschen.

Hexe - Der AufstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt