#134 Heimweh

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Estelle

Estelle hatte den Kopf auf die Hand gestützt und schaute aus dem Fenster. Alles, was sie sah, war ein Stück blauer Himmel und wenn sie auch nur dieses fokussierte, dann konnte sie sich einbilden, dass sie zu Hause aus einem Fenster schaute, dass draußen die Kälte von Tarawoth herrschte und die eisigen Winde über die Schneedünen fegten, um die vielen losen Schneekristallen aufzuwirbeln und mit einem sanften Glitzern durch die Lüfte zu tragen.

Sie wollte so gern mal wieder durch den Schnee stapfen. Sie vermisste das Gefühl, vollkommen durchgefroren in die beheizten Räume des Schlosses zu kommen und sich erst mal einen heißen Kakao zu holen, an dem man sich die Finger wärmen konnte. Im Schloss lagen in jedem Fenster dicke, flauschige Decken, denn es war üblich, dass man sich in die Fenster hockte, um zu lesen, oder einfach tagträumerisch nach draußen zu starren.

Unwillkürlich fuhr sich die junge Prinzessin über die Arme, aber nicht weil sie fror, sondern weil sie das eben nicht tat. Die langen, indigofarbenden, gewellten Haare, hatte sie zu einem lockeren Dutt gebunden, denn wenn sie offen waren, schwitzte sie sich den Hintern weg. Sie war sogar drauf und dran gewesen, sie schneiden zu lassen, so kurz wie die der Rose, aber sie traute sich dann doch nicht.

"Heyhey", drang eine helle Stimme an ihr Ohr und Estelle wandte ihren Blick um zu einem Mädchen, dass den Raum betreten hatte. Sie hatte langes, glattes, rosanes Haar, war kaum größer als Estelle, was was heißen sollte, denn die Butterflyprinzessin war keine eins-sechzig groß. Die Jüngere setzte sich zu ihr und lächelte ihr zu. "Hey", grüßte Estelle zurück und beobachtete, wie das Mädchen sich die Haare zurück strich.

"Du bist die Butterfly Prinzessin, nicht? Du bist wirklich so hübsch, wie alle sagen", murmelte sie schnell und schaute Estelle prüfend in die Augen. Estelle lachte leise auf. "Die Regenbogenhaut verdient ihren Namen", setzte sie dann hinzu. Ja, wenn man zum ersten mal einen Butterfly sah, war das für viele merkwürdig. "Und du bist?" "Mai Aramera", antwortete die Rosahaarige und kratzte sich am Kopf.

Estelle sah sie erstaunt an. Ja da war was, sie hatte Gerüchte gehört. Wieder eine Sache, über die Yoongi still die Hand hielt. "Gehörst du dann nicht nach Aramera?", fragte sie trotzdem mal pro Forma. Mai nickte und schüttelte dann den Kopf. "Also... nicht, wenn ich mich weiter hier verstecken kann. Ich bin froh, dass König Yoongi mich noch nicht zurück geschickt hat. Jimin wird wohl mit ihm gesprochen haben, denn er hat nichts weiter von mir verlangt, außer, dass ich zu einem Heiler gehe."

Estelle neigte den Kopf. "Zu einem Heiler?", hakte sie nach und warf der Jüngeren einen prüfenden Blick zu, doch diese nickte nur. "Was hat dich gerade so zum ausspacen gebracht?", wechselte sie lieber das Thema und Estelle zuckte mit den Schultern. "Heimweh", gab sie zu, "ich vermisse meine Mutter. Was gäbe ich dafür, mal wieder zusammengestaucht zu werden, weil ich nicht gerade sitze. So weit bin ich schon."

Mai grinste. "Das haben wir gleich, pass auf." Sie räusperte sich, dann setzte sie einen strengen Blick auf. "Sitz gerade Estelle! Dein Rücken wird krumm. Eine Prinzessin sollte nicht dasitzen, wie ein Schluck Wasser!" Estelle setzte sich automatisch gerader hin. Dann fing sie den Blick der Anderen wieder ein. "Wow, das kam schon ziemlich nah ran", meinte sie und musterte das Mädchen forschend.

"Meine Mutter ist ein ähnliches Kaliber, aber sie meint es nicht böse... Das Problem ist eher meine Vater. Ich bin froh, dass er noch nicht weiß, wo ich stecke, denn sonst würde er sicher verlangen, dass ich nach Hause komme", sagte sie dann doch. Mai sagte es zwar nicht direkt, doch allein von dem, was sie gesagt hatte, konnte sie sich denken, was Mai zuhause durchmachen musste. Es war ein Wunder, dass sie so offen und positiv war.

Da saßen sie hier, ähnlich vom Wesen, aber die eine hatte Heimweh ohne Ende und die andere wollte wahrscheinlich nie wieder nach Hause zurück. Estelle lehnte sich ein wenig rüber und drückte dem Mädchen die Schulter, welches daraufhin dankbar lächelte. Sie hatte die Geste verstanden. "Wir sollten vielleicht ein schöneres Thema anschneiden, oder?", meinte Estelle vage und ein belustigtes Glitzern trat in die Augen der Rosahaarigen. "Jungs!" "Jungs?"

Sie lehnte sich ein wenig näher ran. "Also... du... und der König..." "Was?" Estelle blinzelte. Wie bitte? Mai kicherte erheitert. "Dein Gesicht!" Was war mit ihrem Gesicht. "Stop, junge Dame, du überschreitest deine Kompetenzen", meinte Estelle halb im Scherz. "Ich hab nur zwei Augen im Kopf", erwiderte Mai frech und streckte sich. "Okay, okay, ich will nichts unterstellen, aber so... loooowkey... ihr beide. Ihr scheint eine Art und Weise entwickelt zu haben, stumm in form von genervten Blicken zu kommunizieren, es ist lustig anzusehen."

Estelle kicherte. "Genervt, du sagst es selbst. Tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen, aber da läuft nichts." Nein, also wirklich. Ihre Mutter hatte sie extra nach Curare  geschickt, weil Yoongi ihrer Meinung nach der letzte Mann war, mit dem Estelle was anfangen würde. Das war auch das, was Estelle gedacht hatte, aber der Funken sagte was anderes.

Es hatte gefunkt, wie war das möglich?! Bei Yoongi?! Nicht, dass es ein Muss war, einen Typen zu daten, bei dem es funkt, aber Funken waren immer ein gutes Zeichen. Estelle hatte nicht mal gewusst, dass es bei Landaren funken konnte. Das passierte eigentlich nur bei Butterflys. Sie versuchte dem nicht so viel Bedeutung beizumessen. Es war nur ein Funke gewesen, keine große Sache. Zu denken gab es ihr trotzdem, denn ... was sagte es über sie aus, wenn jemand wie Yoongi zu ihr passte?

Wie konnte er überhaupt zu irgendwem passen, wo er doch seine Mate verloren hatte?

Estelle verzog den Mund und ihr Blick fiel zur Tür und wie bestellt huschte ein mintfarbender Haarschopf vorbei. "Eh! Yoongi!" Er kam wieder zurück und warf ihr einen genervten Blick zu, den sie genervt erwiderte. Er nickte das nur genervt ab und sie zuckte genervt die Schultern. Er verdrehte genervt die Augen, ehe er genervt ging.

"Ich glaube du hast doch Recht, das machen wir tatsächlich. Wie sieht es bei dir aus?", meinte Estelle mit einem kleinen Lachen. Mai zuckte mit den schmalen Schultern. "Ich hab da einen Typen gesehen, aber er sieht mich einfach nicht. Irgendwie scheint er mich nicht wahrzunehmen also werde ich ihn mal ansprechen", resolut schob sie sich die Ärmel hoch. "Am besten gleich."

Sie stand auf. "Sei nicht traurig, Estelle, du kannst bestimmt bald nach Hause." Estelle lächelte demütig und neigte den Kopf. "Bestimmt", stimmte sie zu, "auch wenn ich gar nicht mehr so ungern hier bin. Curare kann ganz charmant sein." Sie zwinkerte der Jüngeren zu, die das Grinsen breit erwiderte. Sie ging zur Tür und hing sich übertrieben lasziv in diese. "Bist zum nächsten Mal, Babe!" Damit schwenkte sie ihre Haare zurück und genoss den großen Abgang.

Estelle lachte. Die Kleine war zwar weird, aber lustig.



Curare Teil IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt