75. Ein Geschenk vom Herzen

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  „Obwohl du nur eine Maschine bist, siehst du mich an, als hätte ich ein Verbrechen begangen", sagte Raisa und blickte zu ihrem Titanen auf. Vah Inazuma konnte grade wirklich den Eindruck erwecken, dass er böse auf Raisa wäre. Sie beobachtete diese, fast schon menschliche, Reaktion mit emotionsloser Miene. „Hast wohl zu viel von meiner 'Menschlichkeit' abgekommen", sagte sie spöttisch. Und nein, sie kam sich nicht dumm dabei vor, wie sie mit Vah Inazuma sprach. Sie wusste, dass ihr Titan jedes Wort genauestens verstand.

Nachdem sie ihren Titan betreten hatte, sprang ihr sofort die leuchtende Steuerungseinheit ins Auge. Der Geist von Inazuma war heute außergewöhnlich penetrant. Aber als würde sie, Raisa, sich von irgendwem etwas sagen lassen. Ob Inazuma nun darauf brannte, mit ihr im Geiste verbunden zu sein, oder nicht, das war ihr gleicht. Noch war sie seine Meisterin und nicht umgekehrt!

Erschöpft ließ sie sich auf die auf dem Boden ausgebreiteten Decken fallen. Die gesamte Nacht bis zu dem Morgengrauen war sie den Weg zurückgegangen. Und die vergangenen Tage spürte sie auch noch in den Knochen. Es wäre also angebracht, wenn sie sich nun auch mal eine Pause gönnen würde. Mit den Armen hinter dem Kopf verschränkt, einem Bein angewinkelt und das andere ausgestreckt, lag sie auf den Decken und schaute an die Decke. Oder an ihren Titanen, wie man es sehen wollte. Jedenfalls... Sie kam nicht zur Ruhe, was sie ärgerte.
Inazuma rührte sich nicht von Boden, seine Bewegungen waren es also nicht, die sie wach hielten. Sie änderte ihre Liegeposition, aber auch das brachte nichts. Mit einem Ruck saß sie schließlich aufrecht und sah sich um. Eine Angewohnheit aus den Hebra-Bergen, die sie sich schnell wieder abgewöhnen musste. Dabei fiel ihr jedoch etwas auf. Ein Korb, nicht sonderlich groß, aber randvoll gefüllt, stand in ihrem Titanen.
Es gab drei Personen, denen sie die Frechheit zutrauen würde, dass sie ungefragt Inazuma betraten: Revali, Timor und Zelda. Da Revali ihr niemals etwas freiwillig mitbringen würde und Timor sich weit entfernt in Epysa befand, blieb nur noch Zelda übrig. Dieses Weib... Hylia sei gedankt, dass sie die Prinzessin jetzt auch schon wieder eine Weile nicht gesehen hatte, weshalb sie das jetzt einfach darauf beruhen ließ. Eine Weile nicht gesehen? Es fühlte sich so an, dabei waren es lediglich ein paar Tage.

Raisa stand auf, ging zu dem Korb und nahm eben diesen hoch. Allem Anschein nach war er gefüllt mit Süßigkeiten. Jetzt war sie sich doch nicht mehr so sicher, ob dieses Geschenk nicht doch vielleicht von dem Prinzen kam. Das war doch seine Masche, fehlte nur noch der Antrag, den sie wie immer ablehnen würde.

„Ich habe es nicht nötig, mich beschenken zu lassen", sagte sie und stellte den Korb wieder weg. Zum Wegwerfen war er allerdings auch zu schade...

Ihr Blick fiel von dem Korb auf das in der Ferne liegende Schloss Hyrule, welches noch immer von Schnee geschmückt war. Bevor ihre Fähigkeit vollends erwacht war, hatte sie von diesem Titanen aus einmal zum Schloss geblickt und alles in der Umgebung brennen sehen. Auch wenn es nur für eine Sekunde war, sie war sich sicher, dass sie es weder geträumt noch sich eingebildet hatte. War dies auch eine Vorhersehung gewesen? Womöglich das Auftauchen der Verheerung?
Bislang hatte sie sich noch nie wirklich Gedanken darüber gemacht, was wohl passieren würde, wenn die Verheerung auftauchen wird. Doch so langsam schien es ihr angebracht, den einen oder anderen Gedanken daran zu verschwenden. Zudem besaß sie die Möglichkeit, den gesamten Ablauf des Krieges, der Wiederkehr der Verheerung oder wie auch immer man es nennen wollte, vorherzusehen. Die Frage war nur: wie? Während eines Kampfes die Angriffe vorauszusehen, war nicht schwer. Den Bogen, wie sie das vollbrachte, hatte sie mittlerweile raus. Aber ein Ereignis, was in ferner Zukunft lag, hatte sie bislang nur ein einziges Mal vorausgesehen. Damals,... als die Sache in Akkala passiert war.

Leider hatte sie nicht den blassesten Schimmer, wie sie dies vollbracht hatte. Es kam einfach, ohne dass sie es erwartet hatte. Der Deku Baum sagte auch, dass sie diese Fähigkeit nutzen sollte, um den Kampf gegen die Verheerung vorherzusehen und zu verändern. Wusste er vielleicht, wie sie diese Gabe kontrollieren konnte? Oder würde sie Antworten auf ihre Fragen in der Königsfamilie finden? Sollte sie sich aber dazu entscheiden, dort nach Antworten zu suchen, müsste sie wohl oder übel mit der Wahrheit herausrücken. Die Wahrheit, dass sie ihre Fähigkeit als Recke gefunden hatte. Oder aber..

Auf Raisa's Lippen schlich sich ein hinterhältiges Grinsen. Es gab immer mehrere Möglichkeiten. Man musste sie nur finden! Heute war der achtundzwanzigste Dezember und in genau vier Tagen war Neujahr. Am Abend zuvor hatten die Recken eigentlich wieder in Schloss Hyrule zu sein, vermutlich waren einige auch einfach seit dem vierundzwanzigsten geblieben, aber darum ging es ihr jetzt nicht. An diesem Tag könnte sie vor Zelda einen Sinneswandel vorspielen und ins Schloss gehen. Dort befand sich die größte Bibliothek in ganz Hyrule. Auch wenn sie nicht lesen konnte, würde sie schon einen Weg finden, um an die richtigen Informationen zu kommen.
Ihr Plan war zwar noch nicht perfekt, aber er gefiel ihr dennoch.

Wo würde sie es machen! Und unter diesen Umständen nahm sie es auch fast schon gerne in Kauf, dass sie eine halbe Nacht mit den anderen verbringen musste.
...Irgendwie war sie immer noch ein wenig das gerissene Biest, wie sie es vor ihrer Zeit als Recke zu sein pflegte. Aber war diese Tat nicht weitblickend auch für das Wohl des Volkes von Hyrule von Vorteil?

Überzeugt von ihrem Vorhaben drehte sie sich zu der blau leuchtenden Steuerungseinheit.
„Du gibst auch nie auf. Ich weiß, warum ich dein Recke geworden bin", sagte Raisa und ging zu der Steuerungseinheit. „Ich lasse dich Mensch sein, aber nicht lange." Ihre Hand wanderte auf das Podest und ihre Augen schlossen sich. Die Bevölkerung sah in den Titanen Kriegsmaschinen, die dazu dienten, die Verheerung zu besiegen. Raisa, und sie war sich sicher, dass die anderen Recken ähnlich empfanden, sah in ihrem Titan etwas ganz anderes.
Wenn sie mit Inazuma im Geiste verbunden war, war es fast so, als wäre Inazuma eine Person. Die Titanen... Damit sie ständig liefen, hatten die antiken Shiekah es geschafft, ihnen etwas Ähnliches wie eine Seele zu gaben. Und dieses seelenartige Etwas erlaubte nun, dass gewisse Personen die Titanen steuern konnten. Recke... Hinter diesem Titel steckte mehr, als einfach nur Pilot über eine Maschine zu sein. Aber unwissende hatten keine Ahnung. Raisa glaubte auch, dass nicht einmal Zelda, die die Titanen erforschte, so genau wusste, was diese waren. Aber gut, da wollte sie sich auch nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, denn sie konnte sich auch gut täuschen.

Nun, darüber zu philosophieren half auch nicht viel weiter. Ihre primäre Aufgabe war es nun, irgendwie in die Bibliothek von Schloss Hyrule zu kommen.  

Number 6Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt