79. Feigling

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  Raisa blieb stehen und drehte sich um. Dabei blickte sie in smaragdgrüne, stechende Augen.
„Hast du mir nachgestellt?", fragte sie in einem kalten Ton. „Jeder hätte dir nachgestellt. Was erwartest du auch? Du geisterst hier herum, wie eine verrückte. Zudem bist du auch nicht wirklich jemand, dem man trauen kann. Und das du allgemein gefährlich bist, bräuchte ich eigentlich nicht erwähnen...", sagte Revali und verschränkte seine Flügel.
„Das gibt dir noch lange nicht das Recht, mir nachzuspionieren", erwiderte sie.

Die beiden Recken standen sich gegenüber und musterten den jeweils anderen abschätzend.
„Jetzt sag schon, was willst du von mir?", fragte Raisa. Ihr Geduldsfaden riss langsam, was daran lag, dass sie übermüdet war, Revali ihr heimlich nachlief und jetzt auch noch ihre Zeit stahl!
„Ich frage mich nur, wozu jemand, der nicht lesen kann, ein Buch braucht." Das war alles?
„Es ist ja wohl meine Sache, warum und weshalb ich mir Bücher organisiere. Außerdem... Warum hattest du eben behauptet, dass ich hier herumgeistere und allgemein gefährlich sei, wenn du doch wusstest, dass ich nichts anderes getan habe, als mir dieses Buch zu holen. Täusche ich mich oder hast du dir selbst widersprochen?" Eine Antwort blieb aus, was sie in ihrer Vermutung nur bestätigte.

„Wenn das alles ist, dann empfehle ich mich", sagte sie und ging an ihm vorbei.
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass du es nicht auf offiziellem und legalem Wege bekommen hast." Das änderte nun die Sache mit dem Verschwinden... „Was willst du eigentlich von mir!?", fragte sie noch einmal und dieses Mal um einiges gereizter.
„Mein Gefühl sagt mir, dass du krumme Dinge vorhast", sagte Revali. Raisa seufzte nur und fuhr sich durch die Haare. „Dein Gefühl spinnt, genauso wie du. Ich habe nichts 'Krummes' am Laufen."

Um ehrlich zu sein, war sie viel zu Müde, um jetzt noch mit ihm zu schreiten. Und die Tatsache, dass es vier Uhr morgens war, machte das nicht besser. Hätte er sie nicht einfach in Ruhe lassen können?
Raisa bemerkte, dass Revali's stechender und auffordernder Blick noch immer nicht verschwunden war, weshalb sie einfach nachgab und das Buch vor sich hielt.
„Ich versuche etwas über meine Fähigkeit herauszufinden. Bist du jetzt zufrieden? Kann ich jetzt gehen?", wollte sie wissen. „Ob du das kannst, weiß ich nicht. Aber meinen Segen hast du", antwortete er frech. Ihr Buch, welches sie noch eine Sekunde zuvor als wichtig erachtet hatte, flog in sein seine Richtung. Und zu ihrem Leidwesen traf es ihn nicht, im Gegenteil, er fing es sogar noch.
„Hab dich unter Kontrolle", tadelte er sie. Mit einem Knurren ging sie die paar Schritte zu ihm zurück und entriss ihm das Buch, ehe sie nun wirklich davon ging. „Mach doch was du willst", rief sie noch.

Ihre Aussage passte zwar überhaupt nicht, aber das war wohl ihrer Müdigkeit zu verschulden. Sie hoffte, dass sie nun ohne irgendwelche Behinderungen oder sonst was aufgehalten wurde.
„Ach Raisa, da gibt es noch etwas, was angesprochen werden sollte." Zu früh den Frieden gelobt. Sie blieb mit dem Rücken zu ihm gewandt stehen, antwortete aber nicht. Was auch immer er ihr noch sagen wollte, es hörte sich nach etwas an, dass wieder lange ausdiskutiert werden müsste. „Die Person, von denen die anderen gesprochen hatten...", fing er an.
Da hörte sie nun doch auf!

Was sollte das werden? Sie bezweifelte, dass Revali so dumm war und die Anspielungen nicht verstanden hatte, aber... „Sie hat mich auch etwas gelehrt." Es herrschte Stille zwischen den beiden. Sie glaubte die gesamte Zeit über, dass sie sich verhört hatte, doch dieses elendige Schweigen sprach Bände. Sie sollte ihm etwas beigebracht haben? Wohl kaum! Und schon gar nicht in diesem Leben.
Vielleicht nutzte er die Situation auch nur aus, um zu sehen, ob er sie verunsichern konnte. Doch nicht mit ihr! Wahrscheinlich meinte er dies sowieso nicht ernst und irgendeine Beleidigung flog ihr gleich entgegen. „Was denn?", fragte sie, als nach langem Schweigen noch immer nichts von ihm kam. „Vergiss es einfach", versuchte er nun das Gesagte offen im Raum stehen zu lassen.
„Wie 'vergiss es'? Bist du zu Feige, um es auszusprechen?" Was für ein Feigling! Wenn er etwas anfing, dann sollte er es auch zu Ende bringen. „Revali?", hakte sie noch einmal nach.
„Wolltest du nicht gehen?" Nicht, wenn sie nicht zu hören bekam, was er sagen wollte. „Lenk nicht vom Thema ab!", knurrte sie. Doch es hatte keinen Sinn. Revali ging und sie ließ es dann auch auf sich beruhen. Das hatte sie nicht nötig, ihm hinterherzulaufen. Dann sollte er seine Worte doch mit ins Grab nehmen.

Sie hingegen machte nun auch kehrt und konnte endlich diese grauenhaften Schlossmauern verlassen. Dann konnte sie sich nun darum kümmern, ihren Plan voranzutreiben. Das Buch hatte sie zwar, doch ohne fremde Hilfe bekam sie daraus keine Informationen. Und die einzige Person, die ihr grade in den Sinn kam, die ihr helfen könnte, lebte in einem anderen Land. Aus diesem Grund gab es zwei Möglichkeiten. Entweder, sie suchte sich einen neuen Blöden oder sie ließ einen Brief schreiben und schickte diesen samt Buch zu Timor. Und die letzte Möglichkeit gefiel ihr deutlich besser.

Nachdem die Sonne aufgegangen war und noch so einige Stunden vergangen waren, spielten auch schon viele Kinder in Hyrule Stadt. Sie sammelten die Holzstäbe der Feuerwerkskörper und kämpften mit diesen gegeneinander. Somit war es für Raisa nicht schwer, einen naiven Jungen zu finden, der ihr den Brief schrieb. Für ein kleines Taschengeld machten die doch sowieso fast alles.
„Wie wird das geschrieben?", fragte das Gör plötzlich. „Was weiß ich? Schreib einfach", sagte sie genervt. Timor sollte die Worte entziffern können, das reichte ihr.
„Soll ich 'mit freundlichen Grüßen' am Ende schreiben?", fragte der Junge schon wieder etwas? „Sehe ich freundlich aus?", kam auch schon die schroffe Gegenfrage. Der Junge schluckte.
„Dann schreibe ich nur Ihren Namen." War auch besser für alle Beteiligten.
Als würde sie diesem Hirnverbrannten Trottel von einem Prinzen auch noch den Hof machen. So tief war sie noch nicht gesunken.

„Hier bitte. Adressiert an das Königshaus von Epysa. Richtig so?", fragte der Junge. Raisa nickte und nahm den Umschlag, in dem Buch und Brief verstaut waren, an sich. Auf dem Weg zum nächsten Briefkasten ging sie den Plan für die nächste Zeit durch. Leider würde sie wohl oder übel warten müssen, bis Timor ihr zugeschrieben hatte. Das könnte drei Tage dauern... Oder auch vier. Vielleicht dauerte es auch eine Woche. Diese Zeit würde sie irgendwie totschlagen müssen.
Danach allerdings... Musste sie sich selbst irgendwie selbst beibringen in die Zukunft zu sehen.
Egal was kam, sie musste diese Fähigkeit beherrschen, bevor die Verheerung wieder erwacht war. Sonst waren sie, die Recken, in einem großen Nachteil. Ganon wusste schließlich, was ihn erwartete.

Raisa schob die Gedanken von dem Erwachen der Verheerung beiseite und warf den Umschlag in den Briefkasten. Bis zu jenem schicksalhaften Tag war noch Zeit, zumindest sagte ihr dies ihr Gefühl. Und, wann lag ihr Gefühl schon falsch?  

Number 6Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt