94. Wie eine Leiche

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  Egal, ob Raisa nun eine Frau war, zu der er kein gutes Verhältnis hatte. In der vergangenen Zeit, die er mit ihr verbracht hatte, war sie ihm in ernsten Situationen immer zur Hilfe geeilt und hatte ihm das ein oder andere Mal das Leben gerettet. Und er ihr. Somit konnte man daraus schließen, dass die beiden sich immer gegenseitig Unterstützten, wenn die Situation es erforderte. Und jetzt grade erforderte die Situation das!
Etwas unbeholfen kniete er neben ihr, wusste nicht so recht, was er machen sollte. Von Hylianern verstand er nicht so viel, zumindest nicht, was deren Krankheiten und Derartiges belangte. Gewiss gab es auch Ähnlichkeiten zu den Orni, doch nun war er etwas ratlos. Jedoch entschied er sich schnell dazu, Raisa gegen ihren Willen zu einem Arzt zu bringen. Ob sie nun wollte oder nicht spielte keine Rolle.


Er griff nach ihrem Arm, um sie auf seinen Rücken zu ziehen, um mit ihr dann nach Hyrule Stadt zu fliegen. Doch er unterschätzte die Willenskraft von ihr, sowie ihr Durchhaltevermögen. Sie schien von selbst aus ihrer Bewusstlosigkeit aufgewacht zu sein und riss ihren Arm weg. Natürlich nicht annähernd so stark, wie sonst, doch da er in keinster Weise damit gerechnet hatte, gelang es ihr.
„Was zur Hölle glaubst du dir anmaßen zu dürfen?" Raisa's Worte waren kaum mehr, als ein Flüstern, doch gelang es ihr diesmal dennoch bedrohlich zu klingen. Genauso wütend schaute sie ihn auch an.
„Ich rette dir dein Leben", zischte er zurück. Er könnte sich auch Besseres vorstellen, doch war er ihr dies allein schon wegen der Sache bei dem goldenen Leunen schuldig. „Du hast nicht das Recht..." Sie konnte schon wieder nicht ausreden und erlitt einen weiteren Hustenanfall.


Er brauchte gar nicht zu Ende hören. Er wusste, dass Raisa alles unternehmen würde, um ihn davon abzubringen. Doch zwecklos, er konnte genauso stur sein wie sie. Noch während sie sich ihrem Husten hingab, nutzte er die Gelegenheit, während ihre Verteidigung gesenkt war, und hievte sie auf seinen Rücken. Noch bevor sie reagieren konnte, flog er los. Wenn Raisa also beabsichtigte, nicht noch einen Freiflug zu gewinnen, musste sie sich wohl oder übel an ihm festhalten.
„Elender Bastard! Das ist eine..." So ernst die Lage auch sein mochte, irgendwo genoss er es immer noch, dass sie kaum einen Satz zu Ende bringen konnte.


Noch bevor er Hyrule Stadt erreichte, spürte er, wie das Ziehen an seinen Federn verschwand. Er hegte den unschönen Verdacht, dass sie wieder weg war. „Raisa?", fragte er. Da er keine Antwort bekam, bestätigte sich sein Verdacht, weshalb er noch einen Zahn zulegte und Richtung Stadt flog. Der Anblick des Schlosses weckte in ihm eine Erinnerung. Ein belangloses Gespräch mit Zelda. Doch die Prinzessin hatte beiläufig erwähnt, dass sie Raisa das erste Mal traf, als diese fast einer Erkältung erlag. Vielleicht einer Erkältung wie dieser? Die Chance, dass sie nun anfälliger für derartiges war, war gar nicht mal so gering.


In Hyrule Stadt angekommen, ließ er Raisa von seinen Schultern gleiten und trug sie von nun an auf seinen Flügeln. Die Leute, die durch die Stadt gingen, schenkten den beiden, seltsame, entsetzte oder aber auch bestürzte Blicke. Dies alles ignorierend, suchte er den erstbesten Arzt auf, den er finden konnte. Die Hylianer, egal ob Patienten oder Angestellte, musterten Revali ebenfalls mit seltsamen Blicken. Kein Wunder schließlich kam er mit einer bewusstlosen Frau in das Gebäude hereingeschneit. Der Arzt, ein bereits ergrauter Mann, kam auf Revali zu. „Sie braucht Hilfe", war alles, was der Orni dazu sagte. Allerdings hatten seine Worte einen gewissen Nachdruck.


Der Arzt nickte, ließ alles stehen und liegen, denn... Das Wohlbefinden der Recken hatte oberste Priorität! Auch wenn Raisa grade nichts mitbekam, zum ersten Mal konnte sie ihren Vorteil, dass sie ein Recke war, beim gemeinen Volk ausnutzen. „Bring sie hier herüber", sagte der Arzt und Revali tat, was ihm gesagt wurde. Er legte Raisa auf eines der Krankenbetten und übergab sie in die Obhut des Arztes. Dieser begann auch schon Raisa zu untersuchen und Gegenmaßnahmen gegen diese Erkältung zu ergreifen. Revali durfte und wollte dem Ganzen nicht beiwohnen, also ließ er sie vorerst alleine. Der Doktor hatte zudem auch versichert, dass Raisa vorerst nicht aufwachen würde. Von daher war es also egal.


Und so verging die Zeit. Aus Vormittag wurde Mittag und schließlich Nachmittag. Da Revali für den Arzt momentan die einzige Bezugsperson war in Hinsicht auf Raisa, musste der Recke der Orni sich doch alles Mögliche anhören. Die einzige wirklich relevante Information war, dass Raisa nicht sterben würde. Wäre doch auch gelacht, wenn dieses zähe Weib, die die schlimmsten Monster Hyrules überstand, letztlich einer Erkältung erlag. Er hätte es von vorne rein wissen müssen, dass sie nicht den Löffel abgeben würde. So einfach wurde man sie eben nicht los.


Da der Doktor nicht anwesend war, hatte er die große Ehre neben ihrem Bett stehen und zusehen zu dürfen, wie sie schlief. Zumindest machte Raisa jetzt einen ruhigeren und besseren Eindruck. Ihre Züge waren entspannter und ihr Brustkorb hob und senkte sich ganz normal.
Revali wusste nicht, was man ihr alles verabreicht hatte, doch es schien zu wirken.
Unwillkürlich schossen ihm die Bilder von diesem Vorfall wieder in den Kopf. Wie falsch es doch einfach war, ihr so nahe gewesen zu sein. Genauso falsch wie ihre Fassade, die sie perfekt aufrechterhalten konnte. Doch für diesen einen Moment hatte er dort hindurchsehen können. Er hatte die Hylianerin sehen können, die grade wie eine Leiche in diesem Bett lag.


So nahe... Er hatte sehen können, dass Raisa ganz leichte Sommersprossen hatte. So etwas würde man nie sehen können, doch in dieser bescheuerten Situation war es möglich. Das lustigste war, dass er von allen Recken sogar noch das beste Verhältnis zu Raisa hatte, wenn er so darüber nachdachte. So abwegig und unmöglich das auch klingen mochte. Definitiv hatten er und sie ihre Meinungsverschiedenheiten, zumal beide die Welt auch mit ganz anderen Augen sahen. Doch es gab hin und wieder auch Momente, da hatten sie sich fast schon wie Freunde benommen. Und ja, auch wenn er es ungern zugab, er hatte seinen Fehler bereits eingesehen. Schon damals, als sie in seinem Zuhause residierte.
Raisa aufgrund ihrer Herkunft zu verachten, war falsch gewesen. Und auch wenn es ein ungewöhnlicher Umstand war, sie hatte sich den Titel als Recke verdient. Denn... Sie war eine exzellente Schwertkämpferin. Außerdem basierten ihre jetzigen Meinungsverschiedenheiten auch nicht mehr auf den Gründen von damals. Es lag einfach daran, dass sie so gegensätzlich waren.


Revali seufzte laut auf. Zwar hatte er diese Worte nicht an Raisa direkt gerichtet, doch hatte er zumindest für sich selbst seine Ruhe gefunden. Jetzt wo er sich selbst alles eingestanden hatte, ging es ihm auch tatsächlich ein wenig besser. Aber damit war jetzt auch mehr als genug getan. Alles Weitere würde zu sehr an seinem Ego kratzen.


Tja, mit all diesen wirren Gedanken hatte er Raisa einen größeren Gefallen getan, als sie wusste. Und vielleicht auch jemals wissen würde. Er wandte dem Krankenbett den Rücken zu. Für heute war es genug. Wenn er gute Laune hatte und seine großzügige Art nochmal hervorstechen sollte, würde er sie erneut besuchen kommen.

Number 6Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt