103. Den Tatsachen ins Auge blicken

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Revali beobachtete, wie Raisa vor ihm fast schon innerlich mit sich kämpfte. So hatte er sie noch nie gesehen. Oder zumindest nicht in diesem Ausmaß. Zumal sie doch sonst immer darauf bedacht war, all ihre Emotionen zu verstecken oder zu unterdrücken. Irgendwie regte dieser Anblick etwas in ihm. Was genau konnte er nicht sagen, doch auf jeden Fall wollte er endlich wissen, was sie zu erzählen hatte. Denn es erschien ihm so, dass dies ihn auch betraf.
„Hol so weit aus, wie du brauchst. Wir haben Zeit", sagte er. Sie lachte daraufhin nur sarkastisch auf und nahm ihre Hände von ihrem Gesicht. „Nein, die haben wir nicht. Sie läuft uns davon", sagte sie und klang dabei ziemlich verbittert. Die Zeit sollte davon laufen? Was wollte sie damit sagen...?
„Hör zu... Du lagst richtig mit deiner Behauptung, ich würde etwas verheimlichen. Ich wollte das eigentlich keinem von euch erzählen, doch ich bin ehrlich... Das geht einfach nicht. Ich muss das tun."
Er wusste doch, dass sich hinter ihrem merkwürdigen Verhalten noch mehr verbarg. Oh, wie er es gewusst hatte!

„Ich wusste, dass du mir gegenüber unehrlich warst!" Es erfüllte ihn fast schon mit Stolz, dass er sie durchschaut hatte.
„Ich war dir gegenüber nie unehrlich, ich habe dir nur nicht alles erzählt." Aus ihrer eben noch verzweifelten Haltung wurde nun eine abwertende. „Als wir den goldenen Leunen besiegt haben, da hatte ich zum ersten Mal vorhergesehen, wie du weißt. Es stimmt, dass ich meinen eigenen Tod gesehen habe, doch ich hatte die Ursache für diesen vergessen. Ich weiß nicht, wieso... Jedenfalls erinnere ich mich und das liegt daran, dass... Dass in der Zeit, in der ich geschlafen habe, als ich krank war, diesen noch einmal gesehen habe", erzählte Raisa.

„Du hast schon einmal die Geschichte umgeschrieben. Wo ist also dein Problem?", fragte er hingegen. Raisa seufzte innerlich. Dieser vorlaute, überhebliche, wahrnehmungsgestörte Vogel hatte keine Ahnung – und legte es darauf an ihr jeglichen Nerv zu rauben. „Es betrifft nicht nur mich! Es betrifft uns alle!" Damit war die Katze aus dem Sack. Die Karten lagen offen auf dem Tisch. Doch irgendwie glaubte Raisa nicht, dass der Sinn hinter diesen Worten auch wirklich zu ihm durchgedrungen war. „Willst du damit sagen, dass alle Recken..." – „Ja, genau das will ich sagen." Wie so oft beherrschte die Stille nun die Atmosphäre zwischen den beiden. Raisa schaute auf ihre Hände und ragte sich, ob es nun richtig war, dies zu erzählen oder nicht.

Und Revali... Seine Gedanken überschlugen sich. „Wie!", verlangte er dann zu wissen.
„Die Verheerung Ganon wird Monster aussenden gegen die wir nicht den Hauch einer Chance haben werden. Nicht einmal mit unseren Fähigkeiten. Ich weiß, wovon ich rede, ich hatte bereits das Vergnügen." Raisa klang äußerst ruhig, was ziemlich ungewöhnlich war. Sonst hatte sie immer diesen kalten oder bissigen Unterton.

„Du hast bereits einmal die Zukunft gesehen, um sie zu verändern. Warum nicht ein zweites Mal?", fragte er verzweifelt. Ja, sie konnte da eindeutig Verzweiflung aus seiner Stimme heraushören. Sie war auch wie benommen, als ihre Visionen ihr selbst bewusst worden.
„Das hatte ich mir auch gedacht, doch die Zeit rennt wie verrückt. Wir haben zu wenig, um uns so vorzubereiten, dass wir etwas verändern könnten", erwiderte sie. Raisa wollte ihm keine falsche Hoffnung machen, auch wenn sie beide alles andere als gut miteinander auskamen. Es war besser, den Tatsachen ins Auge blicken. „Die anderen müssen es erfahren..." Das ließ sie wieder aufhorchen. „Hast du den Hauch einer Ahnung, was es mich gekostet hat es DIR zu erzählen?", fragte Raisa harsch und schaute ihn leicht säuerlich an. Wie klar es doch war – er hatte nicht den Anstand es zu respektieren, dass sie überhaupt etwas für andere getan hatte. Oder zumindest für ihn!

Raisa atmete tief durch und brachte sich selbst zur Besinnung. Sie schien die Tatsache vergessen zu haben – oder es kümmere sie einfach nicht – das Revali die wohl schlimmste Nachricht überhaupt zu hören bekommen hat. Aber von ihr zu erwarten, dass sie nachsichtig sein sollte... Darauf konnte man sich nicht verlassen. Das konnte er einfach nicht von ihr erwarten „Vergiss deinen selbst geschürten Hass gegen andere! Du musst es ihnen sagen, da haben sie ein Recht drauf. Tust du es nicht, dann mache ich es!", sagte Revali. Das brachte das Fass zum Überlaufen... Ein Schlag ihrerseits auf den Holztisch und schon war es wieder still im Raum.

„Zwei Möglichkeiten: Ich sage es ihnen und du wirst schweigen. Oder ich sage es ihnen nicht und du wirst dennoch schweigen. Ich lasse mich nicht von dir erpressen und schon gar nicht mit Informationen, die ich dir zugesteckt habe. Ich schwöre im Namen der Göttin Hylia, dass ich dir dein Leben noch vor der Verheerung nehmen werde, wenn du auch nur in die Versuchung kommst, etwas gegen meine Entscheidung, die ich sehr bald treffen werde, zu tun." Damit hatte sie vor Revali's Augen einen heiligen Schwur geleistet. Es war ihr aber nicht wichtig. Dieses ganze Gehabe von wegen, dass der Tod einen heimsuchte, sollte man den Schwur brechen, verlor jegliche Wirkung bei ihr, als sie feststellen musste, dass ihre Zeit sowieso ablief.

Revali verschränkte die Flügel vor der Brust und war ganz und gar nicht erfreut über den Ausgang dieser Diskussion. „Und was schätzt du, wie viel Zeit uns noch bleibt?", fragte er dann nach einiger Zeit. „Ich vermute vier bis sechs Monate, mehr haben wir nicht." Höchstens sechs Monate, um sich auf einen Kampf vorzubereiten, gegen einen Gegner, den sie nicht bezwingen konnten. Höchstens sechs Monate, um noch einmal die Dinge tun zu können, die man schon immer mal tun wollte. Das war...erschreckend wenig Zeit. Und die Zeit blieb nicht stehen, nein, sie lief erbarmungslos weiter. Jetzt in eben jener Sekunde. Je länger sie darüber nachdachte, umso näher kam sie zu ihrem Tod, ohne etwas Nützliches vollbracht zu haben. Sollten die Nächte überhaupt noch mit Schlaf verbracht werden oder war Schlaf nur noch ein Luxus, den die Recken sich nicht mehr leisten durften? So viele weitere Fragen gab es noch, doch auf keine war eine Antwort zu finden. Was auch immer sie nun tun würde, es würde sich alles auf das Ende auswirken.

Number 6Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt