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England im Jahre 1626.

Ich trat durch die Tür in die beißende Kälte hinaus. Meine Wangen färbten sich schlagartig rot. Mit zitternden Fingern wickelte ich meinen Schal fester um den Hals und zog meine Mütze tiefer ins Gesicht. Es würde ein rauer und langer Winter werden. Eine leere Pferdekarre preschte an mir vorbei, sodass ich erschrocken zurückwich und dabei fast den Halt verlor. Verärgert über die Unachtsamkeit des Kutschers vergrub ich meine Hände in den Hosentaschen. Trotzdem spürte ich die Kälte am ganzen Körper wie winzige Nadelstiche. Mein Atem hinterließ eine weiße Wolke, die kurzzeitig in der Luft hing. Um mich warmzuhalten, stapfte ich ein paar Mal kräftig mit den Füßen auf den Boden. Genervt wandte ich mich um.

»Eleonora, komm endlich!« Meine Schwester, ein brünettes siebenjähriges Mädchen, erschien im Türrahmen.

Ungeschickt warf sie sich ein wärmendes wollenes Tuch über. »Ich bin ja schon fertig«, murrte sie nicht besonders begeistert darüber bei dieser Kälte hinauszugehen. Eleonoras Blick schweifte von dem mit einem Tuch abgedeckten löchrigen Korb in ihren Händen zu mir hinauf. »Vincent, du weißt doch ganz genau, dass ich es hasse, wenn du mich so nennst!«

»Du hast aber nur diesen einen Namen. Wie soll ich dich den sonst nennen? Etwa Schwesterherz?« Ich grinste schief hinter dem Schal hervor. Meine Schwester jedoch fand es gar nicht lustig und stieß mich leicht mit dem Ellbogen in die Seite.

»Das ist nicht witzig. Wie wäre es mit ...« Sie tippte mit ihrem rechten Zeigefinger auf ihre Lippen. Ein Zeichen das sie angestrengt nachdachte. Nach kurzer Zeit zauberte sich ein warmes Lächeln auf ihre Lippen. Ihre Augen funkelten vor Begeisterung.

»Elly«, hauchte sie den Namen samt einer kleinen Wolke aus. Ich nickte zustimmend.

»Na gut, dann heißt du ab jetzt eben Elly Bates. Oder gefällt dir dein Nachname auch nicht mehr?« Darauf gab Elly nichts zurück. »Na komm!« forderte ich sie freundlich auf und so verschwanden wir in den Schatten einer dunklen Gasse.

Der Geruch war unerträglich und das Quieken der Ratten tat in den Ohren weh. Elly klammerte sich zitternd an mich.

»Hast du immer noch Angst vor den Ratten?«, feixte ich und kickte eine nach vorne. Mit angehaltenem Atem sah Elly, wie die Ratte im hohen Bogen durch die Luft segelte und schließlich mitten in einer halbvereisten Pfütze landete. Angewidert rümpfte sie die Nase.

»Ich habe keine Angst vor ihnen«, verteidigte sie sich tapfer. »Ich kann sie nur nicht leiden, weil sie so ekelhaft sind.«

Ich zog meine Hand hervor. »Was machst du da?«, fragte mich Elly mit einem zittrigen Unterton in der Stimme. Mit den Fingerspitzen hob ich eine am Schwanz hoch und ließ es direkt vor Ellys Gesicht hin- und herbaumeln.

Das graue Vieh quiekte laut und versuchte mir in den Finger zu beißen.

»Vincent! Lass das!«, kreischte Elly hysterisch und wich instinktiv einen Schritt zurück. Dabei stieg sie auf eine andere Ratte, die laute quiekte und dann vor Schreck unter einem Berg aus Abfall floh. Doch bevor sie die Flucht ergriff, biss sie meiner Schwester in den rechten Knöchel. Elly schrie schrill auf.

»Dieses Ding hat mich gebissen!«, fauchte sie. Doch ihr wutverzerrtes Gesicht verwandelte sich schnell in ein tränenüberströmtes. Leiser als zuvor wiederholte sie es. »Sie hat mich gebissen.«

Ich hatte die Ratte inzwischen fallengelassen und klopfte ihr tröstend mit der rechten Hand auf ihre Schulter. »Ist doch nicht so schlimm«, beschwichtigte ich sie. »Du wirst schon nicht zu so einem Ungeziefer mutieren nur, weil sie dich gebissen hat.« Ich nahm ihr den Korb ab.

»Oder glaubst du auch an die albernen Legenden aus dem Südosten Europas?«

Elly sah mit glasigen Augen zu mir hoch. Wie es eine kleine Schwester eben bei ihrem Bruder tat. »Was für Legenden?«, fragte sie mit weinerlicher Stimme.

Ich wusste, dass wenn ich ihr ein paar davon erzählte, würde sie die Angst vor den Ratten kurz vergessen. Und das war von großem Nutzen, da wir noch viele solcher Gassen durchqueren mussten. Hastig überprüfte ich noch den Sitz meines Messers, das ich zur Verteidigung griffbereit und versteckt am Gürtel trug. Man wusste nie, wen man in solchen Gegenden über den Weg lief.

»Ich erzähle sie dir während wir gehen.«

Elly wischte sich rasch die letzten Tränen mit dem Handrücken weg und ging neben mir her. Mit einer leisen grusligen Stimme begann ich. »Also, dort glauben sie, dass manche Menschen nach ihrem Tod zurückkommen.«

»Und was hat das jetzt mit dem Rattenbiss zu tun?«, unterbrach mich Elly ungeduldig.

»Dazu komm ich ja noch«, erklärte ich ihr. »Diese unsterblichen Wesen, haben verschiedenen Namen. Die Einheimischen nennen sie Wiedergänger oder Vampire.«

Die Angst, die sich in Ellys Augen widerspiegelte, war kaum zu übersehen. »Sie steigen bei Nacht aus ihren Gräbern und suchen nach einem Opfer. Und wenn sie eins gefunden haben, beißen sie ihnen in den Hals und saugen ihnen das Blut bis auf den letzten Tropfen aus.« Elly warf verunsichert einen flüchtigen Blick über die Schulter nach hinten. Anscheinend war sie von meiner Erzählung so gefesselt, dass sie anfing sich Sachen einzubilden. Als meine Schwester wieder nach vorne sah, erklärte sie »Aber die Ratte hat mich doch nur kurz gebissen und außerdem hat sie keinen einzigen Tropfen Blut von mir bekommen.«

Daraufhin gab ich flüsternd zurück »Aber es genügt auch nur ein ganz kurzer Biss um ...« Ich machte eine kunstvolle Pause, um Elly ein wenig auf die Folter zu spannen.

»Um was?«, quengelte sie ungeduldig. Ich blieb schlagartig stehen und beugte mich zu ihr hinunter.

»Um auch so eine Kreatur zu werden.«

Ellys Augen wurden so groß wie Murmeln. Allem Anschein nach spielte sie gerade so ein Szenario in ihren Gedanken durch und wollte es nicht wahrhaben, dass so etwas möglich war.

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Sie glaubte wirklich daran.

Die gläserne UnsterblichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt