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Ich folgte ihrem Blick, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. »Da ist nichts«, erklärte ich. Schließlich deutete Elly auf eine nahe gelegene Gasse. Nur von unserem Standpunkt aus, konnte man das Ende der Gasse sehen.

Die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt, so dass sich tiefe Schatten darin breit machten. Elly murmelte aufgeregt: »Na da, der Mann und das Mädchen dort« Ich hielt ihr eine Hand vor die Augen und schimpfte: »Das sollst du nicht sehen, die küssen sich in aller Öffentlichkeit!«

Mit aller Kraft versuchte Elly meine Hand wegzuschlagen »Vincent, lass das!«, rief sie und trat einen Schritt von mir weg »Die küssen sich nicht, der hat ihr gerade in den Hals gebissen!«, stellte sie richtig.

Ungeduldig zerrte ich an ihrem Arm und erklärte: »Elly, lass den Quatsch. Es gibt keine Vampire. Das sind doch nur alberne Legenden. Komm jetzt!« Stur verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Nein, Vincent«, sagte sie bestimmt. 

Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie keinen Schritt vorwärts tun würde, ehe ich es ihr bewiesen hatte. So entgegnete ich:  »Also gut, ich werde an ihnen vorbeigehen. Wenn du recht hast, bekommst du heute die Hälfte meines Essens. Wenn nicht, dann bringst du Vater eine ganze Woche lang alleine das Brot hierher.

Abgemacht?« Elly willigte ein: »Abgemacht«. Entschlossen drückte ich ihr den Korb in die Hand und ging los. Ich war mir zuvor so sicher gewesen, doch nun schwand meine Zuversicht mit jedem Schritt, den ich ging.

Zuerst sah ich das leblose Mädchen, dann das Blut auf ihrer rechten Schulter und dann... Ich schluckte schwer, denn ich blickte direkt in die eisblauen kalten Augen des Mannes. Glasig und leblos stachen sie aus seinen fahlen Augenhöhlen hervor. Ich  schätzte den Mann auf Mitte vierzig und verlangsamte meinen Schritt. Konnten die Legenden wirklich wahr sein?

Aber welche Ironie war es, ausgerechnet jetzt, nachdem ich es Elly erzählt hatte, es mit eigenen Augen zu erblicken. Die Luft schien in der Nähe dieses Untoten noch kälter geworden zu sein. Ich wollte gerade umkehren, doch zu spät. Der Vampir hatte mich bereits bemerkt.

»Guten Abend«, grüßte er monoton und stieß das Mädchen achtlos gegen die Hauswand. Ich zuckte beim dumpfen Klang des Aufpralls zusammen. »Gleichfalls«, erwiderte ich, so gelassen wie möglich. Doch meine Angst war wegen der zitternden Stimme nicht zu überhören.

Der Vampir trat aus dem Schatten hervor. Seine Kleidung war dunkel, wirkte vornehm und  elegant und schien teuer gewesen zu sein. Seine dunkelbraunen schulterlangen Haare waren mit grauen Strähnen, die Silberfäden glichen, durchzogen. Ich saß in der Falle.

Ich riskierte einen Blick auf das tote Mädchen. Der Vampir lachte höhnisch. Plötzlich packte er mich und stieß mich gegen die Mauer. Drohend fauchte er in mein linkes Ohr:  »Du solltest deine Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken, Junge«. Der Vampir machte einen Schritt zurück. Der Untote lächelte schief und verschmolz langsam mit der Dunkelheit.

Bevor er ganz verschwunden war, vernahm ich noch seine letzten Worte: »Ansonsten könntest du es eines Tages vielleicht noch bereuen«. Mir wich jegliche Farbe aus dem Gesicht. Ich starrte gebannt einfach nur vor mich hin, als könnte ich diesen Dämon alleine durch meinen Blick verscheuchen oder abwehren.

»Vincent!«, es war Ellys Stimme, die mich aus meiner Trance zu wecken versuchte. »Was ist passiert?«, versuchte sie mir zu entlocken. Ich schüttelte langsam meinen Kopf. Das konnte nur ein Albtraum gewesen sein.

Der Schweiß rann über meine Schläfe. Jeglicher Muskel war angespannt und bereit sich zu wehren. Elly packte panisch meinen rechten Arm. »Vincent! Was ist los! Rede doch mit mir! Bitte!«, flehte sie. Für einen kurzen Moment schloss ich meine müden Augen, um mich zu sammeln.

»Vincent? «, ihre Stimme war nur mehr ein ängstliches Flüstern »Mir geht's gut, Elly«, murmelte ich, nahm ihren Arm und schleifte sie aus der Gasse, damit ich mit dem toten Mädchen in Verbindung gebracht wurde, denn was sollte ich den Wachmännern erzählen?.

Sichtlich beruhigt atmete meine Schwester auf. »Ich hatte schon Angst, dass dir etwas zugestoßen sein könnte. Auf einmal warst du weg. Versprich mir, dass du mich niemals wieder alleine lassen wirst. Hörst du Vincent? Niemals, du bist doch mein großer Bruder«, drängte sie mich.

»Ja Elly. Ich verspreche es dir«, doch ich hatte es nur gesagt, um endlich meine Ruhe zu haben. Ruhe von all dem Lärm und Stimmengewirr. Schließlich fanden wir unseren Vater und überreichten ihm den Korb. Dankend nahm er ihn an und schickte seine zwei Kinder wieder heim.

Die Frage ob es nun ein echter Vampir gewesen war, brannte auf dem Nachhauseweg Elly auf der Zunge. Doch sie traute sich nicht zu fragen. Seit dem Vorfall war ich außergewöhnlich zurückhaltend. Am Nachhauseweg scherzte ich nicht wie üblich mit Elly über belanglose Sachen, spielte dem Hund des Bäckers keinen Streich und ich sprach auch nicht mit der alten Bettlerin, wie ich es sonst immer tat. Ich schien nicht mehr derselbe zu sein.

Auf Elly wirkte ich verschlossen, unnahbar und fern. Ganz anders als der Bruder, den sie kannte. Mir kam es vor, umso mehr sie sich darüber den Kopf zerbrach, desto weniger nahm sie die Umgebung war.

Die gläserne UnsterblichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt