Epilog

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Vincent stand wie am Anfang wieder am Fenster und sah auf den Trafalgar Square hinunter. »Was hast du in dem letzten Jahrhundert gemacht?«, wollte Alice wissen. »Das ist meine Lebensgeschichte. Die letzten hundert Jahre habe ich nicht gelebt, sondern nur existiert. Irgendwo zwischen Wahnsinn und Angst. Immer mit dem Gedanken, womit ich die Miete für den nächsten Monat bezahlen könnte. Allein mit Elly in New York« antwortete er.

»Und wieso bist du mit mir nach London zurückgekehrt?«, fragte Alice unbeirrt weiter. Sie konnte sich mit diesem Ende nicht zufriedengeben. »Ich wollte sehen ob es die anderen Unsterblichen noch gibt. Ich habe mich an die naive Hoffnung geklammert das alles noch so war wie damals. Das ich durch die Tür des Anwesens trete und ich umgeben bin von anderen Vampiren. Aber es war verlassen. Nur Dunkelheit und Stille. Niemand war mehr dort. Sie mussten alle über die Jahrzehnte hinweggegangen sein, als kein Lebenszeichen mehr von Jaronas kam.

Als ich in der verlassenen Eingangshalle stand, begriff ich etwas das jeder Vampir im Laufe seiner Existenz begreift: Am Ende sind wir immer allein. Alles weicht der Zeit. Jeder Moment und jedes Leben. Das ist der Fluch der Unsterblichkeit, nichts bleibt, nur man selbst«, er schwieg eine Weile und starrte mit leerem Blick aus dem Fenster. Die Sterne verblassten am morgendlichen Himmel und der Horizont färbte sich zart rosa. »Also endet deine Geschichte hier«, begriff Alice ein wenig traurig. Vincent wandte sich zu ihr um und lächelte aufmunternd »Das ist nicht das Ende«. Alice sah ihn kurz schweigend an

. In seinem Gesicht lag ein leidender, nachdenklicher Ausdruck. Alice erhob sich schließlich aus dem grauen Sessel, in dem sie die ganze Nacht schweigend zugehört hatte. »Nun gut, es war eine lange Nacht«, erklärte sie gähnend und verließ den Raum ohne eine weitere Frage zu stellen, obwohl in ihrem Geist noch hunderttausende herumschwirrten. Stumm blickte Vincent aus dem offenen Fenster zu der National Gallery hinüber. Sein Blick schweifte über die Touristen, die an diesem frühen Sommermorgen bereits auf dem Platz die bekannten Statuen fotografierten. Aber trotzdem galt Vincents ganze Aufmerksamkeit seinem heimlichen Zuhörer.

Versteckt in den dunklen Schatten des Zimmers, hatte er die ganze Nacht heimlich gelauscht. Die dunkle, schweigende Gestalt verharrte immer noch regungslos, wie eine Statue aus kaltem, weißem Marmor, in der Ecke. Vincent spürte ihren Blick und ihre Anwesenheit so deutlich, wie eine leichte Berührung. »Du hast recht, das ist nicht das Ende deiner Geschichte«, flüsterte die Gestalt plötzlich mit vertrauter Stimme. Sie trat aus dem Schatten hervor, auf Vincent zu. Jaronas eisige, blaugrauen Augen glänzten matt im milden Sonnenlicht, des wolkenlosen Morgens.

The End

Die gläserne UnsterblichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt