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In der frühen Abenddämmerung des darauffolgenden Tages verließ ich das Anwesen in Highgate und begab mich nach London um zu jagen. Es war Anfang Juli und die Tage zogen sich schier endlos dahin, bis die Dunkelheit sich über das Land legte.

In die Gassen und Straßen drangen noch immer das wenige Tageslicht, so dass ich gezwungen war, noch ein wenig durch die Stadt zu schlendern und auf die schützende Nacht zu warten. In Gedanken versunken wanderte ich ziellos umher. Hier und da hob ich meinen Blick zum Himmel der sich langsam dunkelblau färbte.

Wie ein Fleck Tinte wuchs er über London, bis die ersten Sterne hinter dem Schleier des Tages hervor drangen und zu leuchten begannen. Der Nordstern war an jenem Tag besonders hell und glomm weiß zwischen den wenigen Wolken hervor. Es schien, als strahlte er mit dem Mond um die Wette. Nach einer Weile schreckte ich hoch, als ich nach langem nachdenken wieder meinen Blick zum Sternenzelt erhob.

Ich kannte die Gegend nur all zu gut. Ein betrübte Schwere lag plötzlich auf meiner Brust, als ich am Ende der Gasse die verwitterten Steine der St. Pauls Kathedrale sah. Es war mir immer gelungen den Ort zu meiden, doch jetzt stand ich nur wenige Meter entfernt von dem immer wieder neuerbauten Bauwerk, das schon fast ein Jahrtausend dort schweigend in den Himmel emporragte.

Wie ein altes Ungetüm aus längst vergessener Zeit thronte sie dort auf dem Platz. Der verfallene Turm, der 1561 einem Blitzschlag zum Opfer gefallen war, bestand immer noch aus Trümmern. Wäre nicht  ein neuer Portikus damals errichtet worden, würde sie nur einer gespenstische Ruine ähneln.

Dies war eine Säulenhalle mit geradem Gebälk, so das die, dem heiligen Paulus geweihte Kathedrale, wieder ein Zufluchtsort für die Gläubigen sein konnte. Mit versteinerter Miene starrte ich auf den eingestürzten Turm. Mit aller Kraft zwang ich mich vergeblichst zum Umkehren. Etwas in mir wollte jedoch weitergehen und sehen, ob mein Vater dort war.

Ja, es wäre mir sogar Grace lieb gewesen. Ich wollte nur jemanden aus dem Schatten heraus beobachten um mich an meiner Vergangenheit erinnern. Ich musste zugeben, dass ich sogar ziemlich aufgeregt war, als würde ich etwas verbotenes wagen. Es lag ein gewisser Reiz in der Luft und so ging ich zielstrebig auf die Kathedrale zu.

Gut bedacht darauf, abseits des Platzes zu sein schweifte mein unruhiger, suchender Blick umher. Hier und da erkannte ich gutbekannte Gesichter wieder. Wie die alte Bettlerin vor dem Portal der Kathedrale. Zusammengekauert und mit trüben Augen saß sie dort. Ein gefährlicher Gedanke schlich sich in meinen Geist.

Wie alle jungen Menschen hatte ich Unsinn im Kopf und wollte mein Schicksal herausfordern.   Getrieben von einer wilden Neugierde ging ich auf sie zu. Ihre halbblinden Augen mit der milchigen Iris fixierten mich. »Mein Herr«, bat sie mit heiserer Stimme »Erbarmen Sie sich gegenüber einer frommen Seele und mildern sie mein Leid«.

Sie streckte ihre rechte zittrige, knochige Hand aus. Ein kurzer Zweifel kam mir mir auf, vielleicht sollte ich doch umkehren. Doch ich spürte wie ich im nächsten eine Silbermünze hervorzog und ihr in die Hand legte. Sie bedankte sich auf eine überschwängliche Weise und erklärte, dass ich das Herz auf der rechten Seite trug.

Als ihre Worte verklungen war, fragte ich mit zögerlicher Stimme »Kennen Sie einen Adrian Bates?«. Die Frau senkte betrübt ihren Blick »Nur seine Kinder, zwei gute Seelen«. Die Bettlerin deutete auf ihre Augen »Wissen Sie, ich bin halb erblindet und sein Sohn, ich glaube er hieß Vincent, stahl immer etwas Brot für mich. Er und seine Schwester hatten nicht viel, aber dafür ein großes Herz«.

Die gläserne UnsterblichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt